Die Blutnacht: Roman (German Edition)
noch alles.«
Grymonde gab Estelle die Pistole. Sie hielt sie mit beiden Händen vor ihre schmale Brust. Grymonde nahm eine Schnur vom Hals und legte sie Estelle um. Darauf war der Spannschlüssel gefädelt. Er ließ ihn in ihrem Kleid verschwinden. Unten krachte die Tür, als schlüge jemand mit einer Axt darauf ein.
»Du bringst Carla zum Kloster der Filles-Dieu.«
Estelle nickte. Grymonde schaute zu Carla.
»Solange niemand weiß, dass Ihr dort seid – und Ihr ihnen nicht verratet, wer Ihr seid –, seid Ihr sicher, bis Mattias Euch findet. Oder ich.«
»Von dir will ich auch einen Kuss, wo wir gerade dabei sind«, rief Alice.
»Kommt Alice mit?«, fragte Estelle.
»Wir treffen sie später wieder«, sagte Grymonde. »Wartet auf dem Dach auf mich.«
Carla konnte sich einen letzten schnellen Blick nicht versagen.
Als Grymonde zu seiner Mutter ging, streckte sie ihm ihre Arme entgegen.
Die beiden dunklen Treppen hinaufzusteigen strengte Carla mehr an, als sie vermutet hätte. Seit den Wehen waren ihre Gelenke völlig steif geworden, das überdehnte Gewebe spannte. Jeder Schritt war ungeschickt, schwerfällig, unsicher. Estelle kam hinter ihr. Oben führte eine Tür ins letzte Dämmerlicht hinaus. Carla lehnte sich anden Rahmen. Ihr schwamm alles vor Augen. Sie kniff die Lider zusammen und hielt Amparo eng an sich gedrückt. Ihr Becken war eine Masse dumpfer Schmerzen. Mit dem Schmerz konnte sie umgehen. Ihre Müdigkeit konnte sie durch ungeheure Willensanstrengung besiegen, die mitgenommenen Bänder und Sehnen nicht.
Sie schlug die Augen auf.
Das Dach neigte sich sanft bis zur Kante, und dahinter tobte unten im Hof der Wahnsinn. Sie sah schattenhafte jugendliche Gestalten auf den anderen Dächern. Die jungen Leute rissen Dachziegel hoch und schleuderten sie nach unten. Eine Muskete dröhnte, und ein gebauschter Rock stürzte in die Tiefe. Von unten klangen die gleichmäßigen Axtschläge unvermindert weiter. Carla sah Papin.
Er hockte voller Furcht im Schatten von Grymondes Turm und schaute sie nicht an.
Aus der Nähe gesehen, stellte sich der Turm als noch seltsamer und baufälliger heraus, als er ihr von unten erschienen war. Er sah eher aus, als hätte ihn ein Kind zum Spaß aufgestapelt. Die drei Stockwerke waren drei gewagt aufeinander gestellte Hütten, eine immer kleiner als die darunter. Die unterste reichte beinahe bis zur Dachkante, und das Ganze war in sich zusammengesackt und drückte schwer gegen das Schiffstau, das man zur Sicherung um die Mitte gelegt und an einem Eisenring im eigentlichen Dach verankert hatte.
Carla neigte sich zu Estelle hinunter.
»Estelle, weißt du, wo wir hingehen müssen?«
Estelle deutete nach Osten, und Carla sank der Mut.
Grymondes Dach grenzte an einen viel steileren Giebel, und der wiederum führte zu unzähligen anderen Dächern von verschiedener Höhe. Carla spürte Moos unter den Füßen. Es war nass und glitschig vom Regen.
»Bist du hier schon mal gewesen?«
Estelle schüttelte gelassen den Kopf.
»Wie weißt du dann, wie wir wieder hinunterkommen?«
»Es gibt immer einen Weg vom Dach runter. Speicher. Fenster.«
»Du meinst, wir brechen in ein Haus ein?«
Estelle zuckte die Achseln, als wäre das offensichtlich.
Grymonde kam. Er nahm seine Tasche von der Schulter und machte einen Knoten in den Riemen, um ihn zu verkürzen. Dannlegte er ihn Estelle um die Schultern. Die Tasche war schwer, aber das Mädchen zuckte nicht mit der Wimper.
»Ich glaube nicht, dass ich über die Dächer komme«, sagte Carla.
»Dann trage ich dich. Keine Sorge. Papin!«
Grymonde ging zu Papin und gab ihm Anweisungen. Er deutete auf das Stück Schiffsmast, das den Turm gegen das nächste Dach abstützte. Papin nickte. Grymonde kehrte zurück und zog ein Messer aus seinem Stiefel. Er begann, das Schiffstau durchzusäbeln.
»Zurück«, sagte er.
Carla und Estelle zogen sich zurück. Durchgeschnittene Fasern rollten sich unter der Klinge.
»Jetzt, Papin! Mach mir Ehre.«
Papin trat vor und holte mächtig mit dem Vorschlaghammer aus. Der Hammer krachte an die Stütze, wo sie am Turm befestigt war. Nägel quietschten, und der Mast verschob sich. Der Turm knirschte. Grymonde packte das beinahe durchgesägte Tau und zog kräftig nach hinten. Noch ein Krachen.
»Noch einmal, Papin! Noch einmal für den Infanten!«
Papin holte wieder mit dem Hammer aus, und die Stütze bewegte sich wieder, hielt aber immer noch. Papin knurrte und legte seine ganze Kraft in den dritten
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