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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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Vielleicht spürte sie das ungeheure Geheimnis ihres eigenen Schicksals, ihre Anfänge und Zukunft. Sie und Amparo schienen miteinander zu verschmelzen, von grenzenloser Liebe vereint. Carla wusste, dass Estelle dieses Band niemals aufgeben würde, denn nichts war je so wirklich und wahrhaftig ihr eigen gewesen. Estelle schaute sie voller Schmerz an.
    »Ich war heute Morgen böse. Ich habe gesagt, ich würde Euer Kind umbringen. Es tut mir leid, Carla.«
    »Du hattest Angst. Ich auch. Denk nicht mehr daran.«
    »Sie ist so klein.«
    »Du bist auch in diesem Zimmer geboren«, sagte Carla. »Genau wie Amparo.«
    »Wirklich?«
    »Ja«, antwortete Alice. »Und warst von Anfang an ein rechter kleiner Teufel.«
    Estelle dachte darüber nach.
    »Dann bin ich also eine von uns?«
    »Eine von uns? Natürlich bist du eine von uns. Wir wären ziemlich arm dran ohne dich.« Alice legte den Arm um sie. »Alle zusammen Töchter. Carla, setz dich hierhin, Liebes.«
    Carla dachte an das Dach und die Angreifer unten an der Haustür. Sie setzte sich hin, und Alice legte den anderen Arm um sie. Carla spürte die Wärme des alten, plumpen Körpers, seine Schmerzen, seine Freuden, seine Kraft. Die Gefühle übermannten sie.
    »Manche sagen, dass Leben schwerer ist als Sterben, und man kann sie beinahe verstehen«, sagte Alice. »Aber nicht, wenn das Leben so gut ist wie gerade jetzt, was?« Sie lachte ihr raues Hexenlachen. Und Carla und Estelle lachten auch.
    Grymonde erschien im Türrahmen. Er schaute sie an und runzelte die Stirn, und was immer er sah, was immer er dabei fühlte, es hielt ihn davon ab, den Raum zu betreten.
    »Wir müssen uns beeilen.«
    »Hier gibt es keine Eile«, antwortete Alice. »Warte draußen.«
    Grymonde zog sich in die Dunkelheit zurück.
    »Carla?«
    Carla schaute sie an, und ihre Brauen berührten einander beinahe. Sie bemerkte keine Furcht bei Alice.
    Sie sah Frieden.
    »Du hast große Schrecken ertragen, um in dieses Haus zu kommen. Du hast große Schönheit mitgebracht. Du hast das Leben gebracht. Du hast die Liebe gebracht. Du hast sogar im Sohn dieser Mutter das Gute zum Vorschein gebracht, und das hat bisher noch niemand geschafft.«
    Carla schaute das knochige Mädchen an, das ihr Kind hielt.
    »Niemand außer Estelle.«
    Alice schaute Estelle an und nickte. Dann wandte sie sich wieder an Carla.
    »Diese Frau segnet dich von ganzem Herzen.«
    »O Alice.«
    »Darf ich dich Schwester nennen?«
    »Du bist meine Schwester. Meine Mutter. Mein Engel.«
    »Amparo ist noch hier. Sie wacht jetzt über das Kind mit ihrem Namen. Und fürchte dich nicht, dieses alte Mädchen wird da sein und dir helfen, es durchzustehen. Und du wirst es durchstehen, verzweifle nicht. Mattias wird dich finden. Du hast den bleichen Ritter gerufen. Er wird kommen.«
    »Ich liebe dich.«
    Carla umfasste Alices Kopf mit ihren Händen und küsste sie auf die Lippen. Sie hielt die Augen offen, und Alice auch. Die Welt versank, während sich ihre Seelen umfingen. Sie ließen voneinander.
    Alice wandte sich Estelle zu. »Kann dieses alte Mädchen auch von dir einen Kuss bekommen?«
    Estelle zögerte. Vielleicht war sie Küsse nicht gewöhnt. Vielleicht war sie überwältigt von dem fleckigen, schlaffen Gesicht, das sich über sie beugte.
    »Ach, komm schon, du kleines Teufelchen.«
    Alice schürzte die Lippen, und Estelle küsste sie.
    »Und jetzt geht ihr besser mit Seiner Majestät.«
    Alice drückte Carla ein letztes Mal fest.
    »Auf ins Feuer.«
    Carla nahm Amparo und hielt Estelle bei der Hand. Sie schaute zu Alice.
    Sie konnte nicht. Sie konnte sie nicht verlassen. Alice wandte ihr Gesicht ab.
    »Estelle, sei ein liebes Mädchen, bring Carla aufs Dach. Schaut nicht zurück.«
    Vor der Tür lehnte Grymonde an der Wand, den massigen Unterarm vor die Augen gepresst. Er trug Altans Hornbogen und den Köchermit Pfeilen auf dem Rücken. Er hörte, wie sie aus dem Zimmer kamen, regte sich aber nicht.
    »Nun, ist der Hexenzirkel vorüber?«
    »Sagt uns, was wir machen sollen«, forderte Carla.
    Grymonde schniefte und schluckte und zog den Arm zur Seite. Er zog die doppelläufige Pistole aus dem Gürtel und schob einen der Hähne hin und her. Er schaute Carla an, und sie sah den Schmerz in seinen wunderbaren braunen Augen.
    »Wisst Ihr, wie das funktioniert?«
    »Ich werde nicht mit dem Kind in den Armen töten.«
    »Ich weiß, wie es funktioniert«, sagte Estelle. »Du hast es mir gezeigt, weißt du noch?«
    »Von dir, La Rossa, weiß ich

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