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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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auf und rannte hinein. Flore und Juste lagen eng umschlungen auf dem Bett und schliefen. Sie waren beide völlig bekleidet. Pascale hielt den Mund. Die beiden sahen so friedlich aus. Sie sahen wunderbar aus. Pascale holte ein paarmal tief Luft. Sie wollte gerade kehrt machen und gehen, als sie auf der Straße Stimmen hörte. Raue, ungeduldige Stimmen.
    Das Fenster stand offen.
    Als sie hinüberging, hörte sie, wie Irène etwas über Hauptmann Garnier sagte. Ihre Stimme klang streng ; aber die Stimmen der Männer blieben schroff. Irène erwähnte Frogier. Die Männer auch. Pascale drückte sich neben der Fensterbrüstung an die Mauer und schaute vorsichtig hinaus.
    An der Haustür standen drei Sergents . Keiner von ihnen war Frogier.
    Frogier hatte sie verraten.
    Sie würden umgebracht werden wie all die anderen.
    Pascale schloss die Augen und holte tief Luft. Furcht erfüllte ihre Brust. Ihre Gedanken rasten. Klar denken. Schnell sein. Sie war schnell. Das wusste sie. Der Magen krampfte sich ihr zusammen. Die Beine wurden ihr weich. Sie atmete tief. Furcht in Stärke umwandeln. Das Rad selbst drehen. Die Kraft einer Kämpferin. Aber Gedanken allein reichten nicht. Sie musste handeln. Wie Tannhäuser handeln würde. Sie musste entscheiden.
    Das war alles.
    Sie konnte es schaffen. Sie würde es schaffen. Weil Tannhäuser glaubte, dass sie es schaffen würde. Deswegen hatte er das alles ihr gesagt. Und nicht Flore. Und nicht Juste. Er hatte es ihr gesagt, weil er wusste, dass sie eine Kämpferin war. Und wer auf der ganzen Welt konnte eine Kämpferin besser erkennen als er?
    »Ich bin eine Kämpferin.«
    Entscheiden und handeln. Irgendwas tun.
    Sie rannte zum Bett, rüttelte Flore wach und legte ihr fest eine Hand vor den Mund. Als Flore aufwachte, tauchte auch Juste aus dem Schlaf auf und war tief beschämt. Er wollte eine Erklärung oder Entschuldigung murmeln, aber Pascale brachte ihn zum Schweigen. Sie sprach leise und eindringlich.
    »An der Haustür stehen drei Sergents . Wir verlassen das Haus durch die hinteren Fenster.«
    Pascale rannte in ihr Zimmer zurück, wo das Fenster geschlossen war, um den Lärm der Betrunkenen am anderen Flussufer auszusperren. Sie sah die Satteltaschen und die Pistolen in den Halftern. Ihr Blick fiel auf das Gewehr, das an die Wand gelehnt stand. Sie nahm es zur Hand, ließ den Hahn auf das Rad herunter und legte die Waffe auf ihr Bett. Sie schlang sich ihren Gürtel und den Dolch um die Taille.
    Die Beine waren ihr nicht mehr weich.
    »Steht jetzt auf«, sagte sie.
    Die Zwillinge gehorchten.
    »Ich lasse euch vom Fenster in den Garten hinunter. Es ist ein Spiel. Zuerst Marie, dann Agnès. Stellt euch ans Fenster.«
    Pascale machte das Fenster auf. Die untergehende Sonne färbte den Fluss rot. Am anderen Ufer warfen sie immer noch vom Kai Leichen ins Wasser. Deswegen müssen sie betrunken sein, dachte sie. An ihrem Ufer lagen die Kais des Port Saint-Landry verlassen da. Auch die beiden hier vor Anker liegenden Kähne waren menschenleer. Pascale schaute hinunter. Der Abstand zum Boden war weiter, als sie gedacht hatte. Sie wandte sich zu den Zwillingen um, die Seite an Seite da standen. Sie packte das erste Mädchen unter den Achseln.
    »Mach die Augen zu, bis ich dir sage, dass du sie wieder aufmachen kannst. Agnès, schau zu, wie es geht.«
    »Agnès bin ich«, sagte das Mädchen, das Pascale schon festhielt. Sie schloss die Augen.
    »Dann du zuerst, Agnès.«
    Sie setzte Agnès aufs Fensterbrett. Das Mädchen war noch leichter, als es aussah.
    »Zieh die Beine an und schwinge sie nach draußen. So ist’s gut. Und jetzt lege dich auf den Bauch. Keine Angst, ich halte dich fest.«
    Agnès gehorchte ohne ein Wort und machte die Augen nicht auf. Pascale war froh, und doch wurde ihr übel, als sie begriff, warum das Mädchen so ungewöhnlich gehorsam war.
    »Gut. Jetzt halte ich dich an den Armen aus dem Fenster. Keine Angst.«
    Sie hielt Agnès an den ausgestreckten Armen aus dem Fenster und lehnte sich auf Zehenspitzen hinaus. Sie ließ das Mädchen einen Arm nach dem anderen herunter, bis sie es an beiden Handgelenken gepackt hatte.
    »Jetzt mach die Augen auf und schaue nach unten. Kannst du den Boden sehen?«
    »Ja. Er ist weit weg.«
    »Eigentlich nicht. Wenn der komische Mann hier wäre, könntest du auf seinen Schultern stehen. Fertig? Ich zähle jetzt bis drei und lasse los. Eins, zwei, drei.«
    Sie ließ los. Agnès landete wie eine Katze auf allen vieren und richtete sich

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