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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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Haut leuchtete im Feuerschein, und er hatte auf den Armen dunkle Bilder, genau wie Altan. Sein Körper war blutbespritzt. Deswegen sahen die Bilder noch seltsamer aus.
    Es war Tannser. Sie wusste nicht, warum sie so sicher war. Sie wusste es einfach.
    Tannser sprach und lauschte, während er einen riesigen Speer schärfte.
    Estelle hatte Angst vor ihm. Er schärfte den Speer, weil die Klinge vom vielen Töten stumpf geworden war und weil er weiter töten würde. Er saß auf dem Stuhl, als wäre er der König, nicht nur von Cockaigne, sondern von jedem Ort, an den er kommen würde. Und doch nicht wie ein König, denn sie wusste, dass ihm Cockaigne und alle anderen Orte gleichgültig waren. Er erinnerte sie an Alice, aber sie wusste nicht, warum.
    Tannser hatte auch einen Engel, aber er war anders als ihrer. Er schimmerte nicht im Mondlicht, sondern in der roten Glut des Feuers. Tannsers Engel hatte schwarze Flügel. Sie fragte sich, wie dieser Mann der Vater von Amparo sein konnte. Aber wie konnte Alice die Mutter von Grymonde sein? Estelle wusste nicht, wer ihr eigener Vater war, aber viele Mädchen wussten das nicht. Hatte Tannser einen Vater? Und eine Mutter? Schwestern waren leichter zu verstehen.
    Sie drehte Amparo um, so dass sie Tannser ansehen konnte.
    »Schau nur, Amparo, das ist Tannser. Hab keine Angst vor ihm. Er ist dein Papa.«
    Sie dachte, Amparo könnte weinen, aber das tat sie nicht. Sie gurrte. Estelle fragte sich, was ihr Engel wohl von Tannser hielt und von Tannsers Engel. Tannser legte den Speer weg und trank aus einem Becher. Der zweite große Mann setzte sich auf seinem Stuhl anders hin und winkte. Estelle trat aus dem Schatten. Der zweiteMann zeichnete sich vor dem Feuerschein ab. Er kratzte sich am Kopf. Diesen Kopf kannte sie! Sie wusste, wie sich die seltsamen Dellen unter seinem lockigen Haar anfühlten. Niemand sonst hatte solche Schultern. Auf diesen Schultern war sie durch ganz Paris geflogen.
    »Grymonde? Grymonde!«
    Grymonde stand auf, drehte sich um, breitete die Arme aus und lächelte.
    Tannser versuchte ihn aufzuhalten, sie wusste nicht warum.
    Sie sah Grymondes Gesicht. Sein Lächeln.
    Er hatte keine Augen.
    Anstelle der Augen hatte er große, weiß umrahmte schwarze Löcher.
    Grymonde streichelte ihr übers Haar und hielt sie an die Brust gedrückt und murmelte ihr mit seiner großen, rollenden Stimme süße Worte ins Ohr, aber sie hörte diese Worte nicht. Sie roch nur seinen seltsamen Geruch, den einzigen Geruch, den sie mochte. Amparo weinte in der Lücke zwischen ihren beiden Körpern, und auch Estelle weinte.
    Die beiden Schwestern weinten zusammen um die kastanienbraunen Augen, in denen einmal ein Licht geglänzt hatte, das heller als die Sonne und wilder als jedes Feuer und kostbarer als Gold und weicher als Daunen gewesen war. Wie konnten solche Augen einfach verschwunden sein? Hatten die Soldaten sie mitgenommen? Konnte man sie nicht wieder einsetzen? Nein. Estelle wusste, dass niemand das konnte, außer Gott. Und Gott würde es nicht tun. Die weiß umrahmten dunklen Höhlen würden leer bleiben.
    Nicht einmal Tränen würden sie füllen.
    Keine Augen hatten sie je so angesehen wie diese braunen Augen. Wenn die braunen Augen sie ansahen, hatte sie das Gefühl gehabt, das einzige lebendige Mädchen zu sein. Die braunen Augen schenkten ihr das Gefühl, dass die Welt und all die schrecklichen Dinge darin verschwunden waren, dass nur sie zählte und dass sie gut war. Wenn die braunen Augen sie anschauten, fühlte sie sich so, wie vorhin, als Alice ihre Arme um sie und Amparo und Carla gelegt hatte. Also musste Grymonde doch einer von uns sein. Er hattedie Arme um sie und Amparo gelegt, die Schwestern, die um seine Augen weinten. Eine seiner Hände lag wie eine sanfte Haube auf ihrem Kopf, und die andere ruhte auf ihrem Rücken wie ein Umhang aus Liebe. Sie liebte es, so bedeckt zu sein. Aber sie wollte, dass die Augen wieder in den Höhlen wären.
    Amparo hörte auf zu weinen und Estelle auch.
    Sie waren Schwestern.
    Estelle drehte den Kopf, um Luft zu holen.
    Sie sah, wie Tannser sie beobachtete.
    Seine Augen waren im Schatten verborgen, aber sie wusste, dass sie nicht braun waren. Obwohl sie im Schatten lagen, waren sie so hart wie Edelsteine. Und doch waren sie traurig. Grymondes verschwundene braune Augen hatten nie etwas außer ihr gesehen. Tannsers Augen hingegen sahen alles. Sie sahen Estelle. Sie sahen Grymonde. Sie sahen Amparo. Sie sahen Menschen und Dinge und

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