Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Geschehnisse, die nicht einmal da waren. Dinge, die einmal gewesen waren. Dinge, die einmal sein würden. Dinge, die hätten sein können, aber niemals sein würden. Vielleicht war er deswegen so traurig.
Sie wusste, dass Tannser wusste, wer Amparo war.
Und weil Tannser traurig war und weil er wusste, dass Amparo seine Tochter war, hatte Estelle keine Angst mehr vor ihm.
Tannser bewegte sich nicht und sprach nicht; er stand nur da und wusste, was er wusste. Estelle wünschte, sie wüsste das auch alles, und gleichzeitig war sie froh, dass sie es nicht wusste. Sie wusste, wie es war, einsam zu sein. Die Ratten waren ihre Freunde und ein Drache. Aber Tannser war der einsamste Mensch, den sie je gesehen hatte. Tannser war nicht einer von uns.
Tannser gehörte zu niemandem.
Estelle wurde auch traurig.
Traurig für Tannser.
Sie zog sich von Grymonde zurück. Die Tasche schnitt ihr wieder in die Schulter. Sie nahm sie ab und legte sie auf den Boden. Grymonde neigte sich zu ihr, als wollte er versuchen, sie zu sehen, aber ohne Augen mochte er sich so weit herunterbeugen, wie er wollte, er konnte sie nicht sehen. Nie wieder, und das schmerzte ihn. Es schmerzte auch Estelle. Sie schaute in die weiß umrandeten dunklenHöhlen und sah die verkohlten Stellen, die Brandblasen, die nässten, als weinte seine Haut, weil seine Augen es nicht mehr konnten. Ihr wurde klar, wie ungeheuer weh ihm das alles tun musste. Sie spürte tiefen Schmerz, tief in ihrem Inneren, Schmerz um Grymonde.
Es war seltsam. Tannser und Grymonde waren so groß, und sie war so klein, und Amparo war noch viel kleiner, und doch fühlte sie Mitleid mit den beiden großen Männern, und Amparo fühlte das auch.
»La Rossa, geh nicht weg. Ich bin noch da. Innen drin bin ich noch ich.«
»Ich gehe nicht weg, keine Angst. Ich kann dich noch sehen, auch in den dunklen Höhlen.«
Estelle hatte sich lange nicht mehr nach ihrer Mama gesehnt. Aber jetzt sehnte sie sich nach ihr. Typhaine konnte zumindest sehen.
»Ist Mama gekommen?«
Grymonde duckte sich und bewegte den Kopf im Kreis wie ein Stier. Er schaute grimmig.
»Ich habe sie eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Mach dir um sie keine Sorgen.«
»Ich hatte Angst, sie könnte ein Judas sein wie Papin.«
»Sie war wirklich ein Judas«, sagte Andri. »Jetzt ist sie tot, und Gott möge ihre Seele verfluchen …«
»Sei still, du Narr, und mach, dass du fortkommst«, knurrte Grymonde.
Sein Kopf wandte sich von einer zur anderen Seite und suchte sie.
»La Rossa? Wo bist du? Bist du da?«
Estelle hatte das Gefühl, als wäre ihr Körper völlig leer. Sie drückte Amparo an sich.
»Ich bin hier.«
»Deine Mama ist tot, La Rossa, mein Liebling, ja, aber sie war kein Judas. Sie wurde von demselben Schweinehund ermordet, der mir die Augen ausgestochen hat. Sie war eine verrückte und feurige Schönheit, und sie hat das, was sie getan hat, aus Liebe und aus Hass getan, nicht für Silber, und dafür müssen wir sie lieben.«
Estelle war froh, dass Typhaine kein Judas war. Sie war froh, dass Grymonde sie liebte.
»Bist du da?«, fragte Grymonde.
»Ich bin hier.«
»Verlass mich nicht.«
»Nein. Kann ich Tannser Amparo geben?«
»Du hast die Nachtigall? Für die Dornen?«
Grymonde lachte. Estelle wusste nicht warum. Er schien von Sinnen zu sein.
»Ich habe meine Schwester Amparo.«
»Du hast sie von den Dächern wieder herunter gebracht?«, fragte Grymonde. »Ganz allein?«
Estelle spürte, wie Tannsers Augen auf ihr ruhten. Sie wagte es nicht, zu ihm hinzuschauen.
»Die Soldaten haben uns nicht gesehen.«
»Mein Liebes, mein Liebling, meine Schöne, ja, ja, gib die kleine Nachtigall ihren Dornen. Sie wartet darauf.«
»Du meinst, ich soll sie Tannser geben?«
»Ja, La Rossa.«
Tannser hatte alles schweigend mit angesehen.
Estelle drehte sich zu ihm hin und zeigte ihm Amparo. Sie schaute ihn an.
Tannser kam näher. Der Mond war aufgegangen. Er schien hell und zerklüftet hinter ihm. Tannser ließ den Hof winzig erscheinen. Er beugte sich herüber und schaute das Kind an.
Estelle sah sein Gesicht.
Sie hatte noch nie ein solches Gesicht gesehen.
Es war nicht seltsam, so wie Grymondes Gesicht seltsam war. Und doch lagen Dinge darin, unsichtbare Dinge, die sie innerlich zittern und wünschen ließen, er wäre ihr Freund. Er war weiser als Grymonde und gleichzeitig wilder. Er war nicht so muskulös wie Grymonde und doch stärker. Er war feiner als Grymonde und doch dämonischer. Als Tannser
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