Die Blutnacht: Roman (German Edition)
konnte nämlich die Nonnen nicht leiden.
Inzwischen war sie weit von Cockaigne weg. Sie fand zwei Türen, die verschlossen waren, dann eine Dachluke, die jemand hochgestellt hatte, um Luft hereinzulassen. Sie schaute vorsichtig hinein. Sie hörte Schnüffeln und Scharren und sah dunkle Gestalten, die zusammengerollt auf Strohsäcken lagen. Einige waren groß genug, um Erwachsene zu sein, und einer murmelte etwas im Schlaf. Sie ging weiter und fand eine dritte Tür, die eine Klinke hatte. Sie öffnete sie und schlich sich in pechschwarzer Finsternis eine Treppe hinunter. Alle paar Schritte blieb sie stehen und lauschte, ob jemand von unten hochkam. Sie hörte nur Geräusche aus den Zimmern, an denen sie vorbeiging. Hinunter und immer weiter hinunter. Auf der, wie sie hoffte, letzten Treppe blieb sie stehen, als sie mit der Fußsohle an etwas Weiches stieß.
Sie zog den Fuß sofort zurück, lauschte und hörte Atemzüge. Sie starrte in die Dunkelheit, bis sich eine dunklere Gestalt abzeichnete. Jemand schlief hier, hoffentlich trunken vor Wein. Sie ging die Treppe wieder hinauf bis zu einem kleinen Fenster an einem Treppenabsatz. Sie tastete unter dem Fensterbrett nach der Nische, in der gewöhnlich der Eimer für das Schmutzwasser aufbewahrt wurde. Der Eimer schien leer zu sein. Sie trug ihn halb die nächste Treppe hinauf und stellte ihn auf eine Stufe. Dann kauerte sie sich in die leere Nische. Sie konnte sich nicht ganz hineinquetschen, aber weit genug. Im Dunkeln würde der Mann an ihr vorbeigehen und über den Eimer fallen. Sie zog ihr Messer hervor und hielt Amparo fest an sich gedrückt.
Estelle schlich die Treppe wieder hinunter und stach dem Schlafenden mit dem Messer in die Schulter. Dann huschte sie wieder zu ihrer Nische zurück.
Der Mann regte sich nicht und gab keinen Laut von sich. Sie konnte ihn nicht getötet haben, es war kein tiefer Stich gewesen. Vielleicht wollte er sie überlisten? Aber es war schwer, einen Messerstich zu ignorieren, nur um jemanden zu überlisten. Sie ging wieder hinunter und stieß ihn mit dem Fuß. Er grunzte, wachte aber immer noch nicht auf. Sehr viel Wein. Estelle hielt sich am Geländerfest, kletterte vorsichtig über ihn hinweg und rannte zur Haustür.
Nach dem Treppenhaus schien es auf der Gasse beinahe hell zu sein. Sie war sich nicht sicher, wo sie waren. Linker Hand verlief eine richtige Straße, die sogar noch weniger dunkel war. Sie rannte hin und schaute vorsichtig um die Ecke. Sie war am Rand der Höfe, am Fuß des Hügels. Weiter unten konnte sie den quadratischen Turm von Saint-Sauveur ausmachen. Das Kloster der Filles-Dieu war sogar noch näher. Der Riemen der schweren Ledertasche schnitt ihr in die Schulter. Sie kletterte über eine niedrige Steinmauer, hockte sich dahinter und nahm die Tasche von der Schulter. Sie wiegte Amparo sanft in den Armen und schaute im Schatten in ihr Gesicht.
»Amparo? Du warst sehr tapfer.«
Estelle knöpfte ihr Hemd auf. Ihre Brust war flach wie die eines Jungen, aber die Ratten saugten manchmal an ihren Brustwarzen, und vielleicht würde das Amparo auch gefallen. Sie legte Amparos Mund an ihre Brustwarze, und Amparo nuckelte daran und schien es zu mögen. Estelle genoss es. Sie liebte ihre neue kleine Schwester über alles. Mehr noch sogar als Grymonde, besonders jetzt, da er tot war. Sie weinte eine Weile. Sie konnte nicht den Drachen und ihre Schwester verlieren, nicht alle auf einmal. Amparo nicht abzugeben, das fühlte sich richtig an. Sie musste einen Grund dafür finden, sie zu behalten.
»Du willst nicht bei den Nonnen leben, oder?«, fragte Estelle. »Ich würde das nicht wollen. Die tragen alle die gleichen Kleider, und Leuten, die das tun, kann man nie trauen. Das bedeutet nämlich, dass sie immer tun, was ihnen befohlen wird, selbst wenn das etwas Böses ist.«
Amparo nahm ihren Mund von Estelles Brustwarze und gurrte, und das schien Antwort genug. Estelle war sicher, dass Carla es verstehen würde. Sie fragte sich, was Petit Christian mit Carla anstellen würde. Er war böse und arbeitete für Leute, die noch böser waren, und sie hatten viele Helfer. Carla hatte ihnen einen Engel mitgegeben, ihr und Amparo. Vielleicht hätte Carla den Engel bei sich behalten sollen. Estelle überlegte, ob der Engel dafür gesorgt hatte, dass der Schlafende auf der Treppe nicht aufgewacht war. Siefragte sich, wie der Engel wohl hieß. Vielleicht hatten Engel keine Namen.
Estelle flüsterte: »Bist du da?«
Sie spürte einen
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