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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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warmen Hauch. Der Engel war da. Sie fühlte sich gleich besser.
    »Was sollen wir machen?«
    Sie lauschte sehr aufmerksam. Sie hörte ferne Stimmen, die gleichen Schreie, die sie den ganzen Tag über gehört hatte, aber nichts in der Nähe.
    »Kannst du reden? Oder wachst du nur über uns?«
    » Tannser «, sagte der Engel.
    Estelle drehte sich um. Sie wusste nicht, ob sie das Wort nur in ihrem Kopf gehört hatte. Ein dünner Mondstrahl glänzte über den Höfen. Er schimmerte.
    »Du meinst Tannser, den Ritter?«
    Sie spürte, dass der Engel nickte, obwohl sie nur den schimmernden Mondstrahl sah.
    »Carla hat gesagt, dass Tannser nach Cockaigne kommt. Kommt er?«
    » Er kommt «, sagte der Engel.
    Estelle hob Amparo hoch und küsste sie auf den Kopf. Sie legte sich die Tasche wieder über die Schulter, diesmal über die andere. Sie stand auf und schaute über die Mauer. Sie sah und hörte niemanden. Sie lächelte Amparo an. Sie küsste sie noch einmal.
    »Keine Angst, der Engel ist bei uns. Wir gehen nicht zu den Nonnen. Wir finden Tannser. Der ist dein Vater.«
    Erst sah sie die brennenden Fackeln, dann die Soldaten, dann die Karren.
    Die Soldaten waren sehr zufrieden mit sich. Das konnte Estelle sehen. Sie hatten Fahnen und trugen rote und weiße Bänder. Sie glaubten, dass sie im Recht waren. Sie glaubten, gut zu sein. Sie glaubten, etwas Gutes getan zu haben. Sie glaubten, besser als sie zu sein, besser als die Leute in den Höfen und als Grymonde. Vielleicht waren sie besser. Alle sagten es. Sie wusste, dass sie selbst nicht viel besser war als irgendwas, nicht einmal besser als die Ratten. Aber wenn die Soldaten besser waren, dann wollte sie nicht besser sein. Typhaine, ihre Mutter, wollte besser sein, und sie gab Estelledie Schuld daran, dass ihr das nicht gelang. Estelle tat der Kopf weh. Sie hörte auf, darüber nachzudenken.
    Auf einem der vorüberrumpelnden Wagen waren tote Soldaten angehäuft, und auch darüber freute sie sich. Im zweiten Wagen waren verwundete Männer. Im letzten Karren war Carla.
    Carla sah sehr krank aus. Sie hatte den Kopf gesenkt, als schliefe sie, aber sie schlief nicht. Vielleicht weinte sie, obwohl Estelle nicht glaubte, dass Carla vor den Soldaten weinen würde. Sie hatte Carla eine Weile gehasst, und das hätte sie nicht tun sollen, aber es schien Carla nichts auszumachen. Carla war besser als alle Menschen, die sie je kennengelernt hatte, außer vielleicht Alice. Carla und Alice scherten sich nicht darum, wer besser war. Sie hatten gesagt, dass Estelle eine von uns war. Aber wer war »uns«? Jedenfalls nicht die meisten Leute, die Estelle kannte. Obwohl Estelle ihre Mama liebte, war Typhaine nicht eine von uns. Irgendwie vermutete sie, dass auch Grymonde nicht einer von uns war. Estelle wusste nicht, warum sie selbst eine von uns war, aber sie war es, Alice hatte es gesagt. Und in gewisser Weise war das sogar noch besser, als mit dem Drachen zu fliegen.
    Der Drache war tot. Darüber wollte sie nicht nachdenken.
    Sie wiegte Amparo an ihrer Brust und flüsterte: »Keine Sorge, Amparo. Wir sind eine von uns.«
    Sie sah, dass Carla den Arm um dasselbe kleine Mädchen gelegt hatte, das sie am Morgen mitgebracht hatte. Aber das Mädchen war nicht eine von uns, und Carla war eine von uns, und es machte Estelle nichts aus. Carla war freundlich, deswegen kümmerte sie sich um das Mädchen. Das war nicht dasselbe. Irgendwie wurde Carla dadurch stärker, dass sie freundlich war; auch Alice war dadurch stark geworden. War Estelle nur freundlich zu Amparo? Es fühlte sich anders an, weil Amparo ihre Schwester war und weil Amparo eine von uns war und der Engel auch, da war sie sich sicher.
    Estelle sah Petit Christian und wünschte sich, jemand hätte ihn umgebracht. Sie wünschte sich, sie hätte ihn selbst umgebracht, wie Papin. Petit Christian war nicht nur böser, er war abgrundtief böse. Sie verbarg sich im Dunkel, wiegte Amparo und summte ihr ins Ohr, bis alle Soldaten vorübergezogen waren. Die Karren bogen nach Süden in die Rue Saint-Denis ein, und Carla war fort.
    Estelle eilte durch die Gassen nach Cockaigne.
    Als sie den Kopf um die Ecke steckte, sah sie die Feuerstelle und die Kohlenpfannen und die Schatten der Menschen, die im rauchigen gelben Licht umherhuschten. Leichen lagen auf der Erde. Sie hörte Frauen weinen. Sie sah Jungen und Hunde.
    Sie sah zwei große Männer auf Stühlen sitzen.
    Der eine schaute zu ihr. Er war nackt bis zur Taille und hatte langes Haar. Seine

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