Die Blutnacht: Roman (German Edition)
auf Amparo blickte, erschien ein Staunen auf seinem Gesicht, und Estelle wusste, dass sie jetzt etwas sah, das niemand je gesehen hatte.
»Tannser?«, sagte Estelle.
»Ja.«
»Das ist Amparo.«
Tannser holte tief Luft und hielt den Atem an. Er seufzte. Er lächelte. Einige seiner Zähne waren abgebrochen. Er nickte, als wäreer seit langer, langer Zeit auf Reisen aus einem fernen, fernen Land unterwegs gewesen und hätte nun endlich den Ort erreicht, nach dem er gesucht hatte. Er machte ein Geräusch, als erstickte er. Er hustete. Als er sprach, verblüffte sie seine Stimme. Sie war so sanft, wie er groß war.
»Amparo.«
Estelle hatte noch nie in einem einzigen Wort solche Liebe gehört. Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Amparo.«
Estelle weinte die Tränen nicht. Sie hielt ihm das Kind hin.
»Du kannst sie nehmen, wenn du möchtest. Carla sagt, sie ist dein Kind.«
Tannser bewegte sich lange nicht.
Er nahm Amparo nicht. Estelle war verwirrt.
Tannser richtete sich auf. Er schien größer als zuvor. Er schaute sie an.
»La Rossa, nicht wahr?«
»Grymonde nennt mich La Rossa. Ich heiße Estelle.«
»Estelle.«
Sie war sicher, dass sie auch in diesem Wort Liebe hörte. Aber wie konnte das sein?
»Du bist nach den Sternen oben benannt«, sagte Tannser.
»Nach dem Morgenstern.«
»Nenn ihn den Allerschönsten.«
Estelles Arme zitterten, und sie zog Amparo wieder an die Brust.
»Soll ich dir sagen, was Amparos Name bedeutet?«, fragte Tannser.
»Ja.«
»Er bedeutet: Schutz vor dem Sturm .«
Der Name raubte Estelle den Atem. Sie schaute auf das kleine Kind in ihren Armen.
»Wir leben in einer Welt voller Blut und Donner«, sagte Tannser. »Glaubst du, dass die kleine Nachtigall solche wie uns schützen kann? Vor einem solchen Sturm?«
Estelle dachte darüber nach. Sie erinnerte sich dran, wie sie mit Alice und Carla auf dem Bett gesessen hatte und wie sicher sie sich gefühlt hatte, weil sie eine von uns war, obwohl sie in einer Welt vollerBlut und Donner lebte. Und sie hätten alle drei nicht dort gesessen, wenn Amparo nicht wäre.
»Ja. Sie hat mich und Carla beschützt. Und auch Grymonde, glaube ich.«
Grymonde jammerte vor Schmerzen auf. Die weiß umrandeten schwarzen Höhlen in seinem Gesicht leuchteten.
Tannser nickte, als hätte er diese Antwort erwartet. Er starrte auf Amparo.
Estelle glaubte nicht, dass Tannser Schutz brauchte, aber sie sagte: »Ich weiß, dass sie auch dich schützen würde, wenn du es wolltest.«
»Sie hat mich schon geschützt.«
Tannser schaute Estelle an. Er blickte sie nicht an, als wäre sie ein Mädchen, sondern als wäre sie so groß wie er. Es war ein seltsames Gefühl. Sie fühlte sich dadurch stärker.
»Wusstest du, Estelle, dass selbst im finstersten Sturm, bei Tag oder bei Nacht, die Sterne – und am meisten der Morgenstern – immer noch strahlen?«
»Nein.« Sie dachte darüber nach. »Weil die Sterne am Himmel höher sind als der Sturm?«
Tannser zog die Augenbrauen hoch. »Du hast einen seltenen Verstand.«
»Ist das gut?«
»Es ist wunderbar. Du hast recht, die Sterne sind immer höher als der Sturm. Und so gibt uns Amparo Schutz vor dem Sturm, und du, der Morgenstern, glänzt über dem Sturm. Was haben wir da zu fürchten?«
»Nichts?«
»Ich bin sehr glücklich, dass du Amparos Schwester bist.«
Estelle starrte ihn an. Sie fühlte, dass ihr Tannser etwas sehr Kostbares geschenkt hatte, aber sie wusste nicht, was es war. Sie fühlte sich seinetwegen nicht mehr traurig. Das brauchte er auch nicht.
»Ich liebe meine Schwester über alles. Aber möchtest du sie nicht auf dem Arm halten?«
»Ich möchte sie auf dem Arm halten, Estelle. Mehr als ich atmen möchte. Aber der Sturm von Blut und Donner ist noch nicht vorüber. Diejenigen, über die er hereinbricht, wissen noch nicht einmal,dass er heraufzieht. Und Amparo wird sie nicht schützen. Soll ich dir sagen, warum?«
»Ja, sag es mir.«
»Weil Grymonde und ich dieser Sturm sind.«
Grymonde brüllte in gewaltiger Wut auf. »Zu Haufen werde ich sie totschlagen. Gib mir noch einen Stein der Unsterblichkeit.«
Tannser schaute unverwandt Estelle an. »Und weil ich der Sturm bin«, sagt er, »kann ich Amparo erst auf dem Arm halten, wenn der Sturm vorüber ist.«
»Weil der Sturm ihr wehtun könnte?«
»Du bist ein schlaues Mädchen. Hältst du also Amparo weiter für mich? Noch ein Weilchen länger?«
»Ich halte sie für immer, wenn du möchtest. Ich halte sie gern. Ich dachte
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