Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
Vom Netzwerk:
fällen?«, fragte Tannser.
    Estelle hätte beinahe Ja! gesagt. Aber obwohl diese beiden erwachsenen Männer darüber redeten, was sie tun wollte, wusste sie, dass sie tun musste, was die beiden wollten. Sie biss sich auf die Zunge.
    »Das können sie wirklich«, sagte Tannser. »Sollten wir das zulassen? Oder sollten wir ihre Klugheit geringer schätzen als unsere eigene, hier in der Hölle, die Leute wie ich und du rings um siemühsam aufgebaut haben? Ich weiß es nicht. Was meinst du, mein Infant?«
    »Der Infant sagt nichts.«
    »Der heutige Tag hat mich weit über alles Wissen hinausgebracht. Ich kann nur vorwärts taumeln, so blind wie du, kann mich nur von meinem Herzen und meinem Instinkt leiten lassen.«
    Estelle sah, wie Grymondes versengtes Gesicht zuckte. Sie liebte ihn.
    Grégoire kehrte zurück und schüttelte letzte Weintropfen aus dem Schlauch.
    »Ich sage das nur als Tatsache, nicht als Drohung, um deine Meinung zu ändern«, sagte Tannser, »aber wenn Estelle hierbleibt, bleibst auch du. Ohne sie bist du mir lästig wie ein Stein im Stiefel.«
    Estelle war stolz, dass Tannser sie mitnehmen wollte, aber sie wollte den Drachen nicht verlassen. Diese Wahl machte ihr Angst.
    »Wenn du dein Ziel erreichst«, sagte Grymonde, »und dem Teufel wirklich ein Schnippchen schlägst und mit Frau und Kind aus Paris entkommst, nimmst du dann La Rossa mit?«
    Estelle versuchte sich vorzustellen, was das bedeutete. Es gelang ihr nicht. Aber sie wollte mitgehen.
    Tannser lächelte. So ähnlich musste ein Wolf lächeln, stellte sie sich vor. Er nahm Grégoire den Weinschlauch aus der Hand und schnitt den Verschluss ab. Estelle war verwirrt.
    »Was für eine Zukunft hat sie hier zu erwarten?«, fragte Grymonde. »Pestilenz und Bordell.«
    »Estelle, wenn du hierbleiben willst, sage es«, meinte Tannser. »Es wäre die leichtere Lösung. Ich werde durch Ströme von Blut waten, und wir wissen nicht, ob ich das andere Ufer erreiche. Aber Amparo kommt mit mir mit, auch wenn wir beide in den roten Fluten versinken.«
    »Oh, dann möchte ich mit dir kommen. Amparo will das auch.«
    »Was sagst du jetzt, mein Infant?«
    »Der Drache kann ohne La Rossa nicht fliegen. Er hat das nie gekonnt.«
    Tannser drehte das Innere des Weinschlauchs nach außen. Er hielt ihn vor Estelle hin.
    »Lege Amparo hier hinein. Das soll ihre Wiege sein. Du trägst sie nach Hause.«
    Estelle verstand. Natürlich würde Tannser sie mitnehmen.
    Sie legte Amparo in das weiche Ziegenleder. Sie passte bequem hinein, und ihr kleines Gesicht schaute über den Rand. Estelle lachte. Sie sah so niedlich aus. Tannser beugte sich herunter und zog Estelles Gürtel ein Loch enger. Die oberen Köpfe ihres Hemdes waren noch offen. Er knöpfte noch einen auf. Estelle war nicht mehr verwirrt. Sie würde mitgehen. Sie lächelte. Tannser lächelte auch. Estelle schob Amparo und ihre Wiege unter ihr Hemd, so dass das kleine Gesicht am Ausschnitt herausschaute. Das Ziegenfell lag ihr feucht und kühl auf der Haut. Die Wiege fühlte sich fest und stark an. Tannser knöpfte Estelles Hemd zu, trat einen Schritt zurück und beurteilte sein Werk.
    »Ein Säugling hält mehr aus, als du denkst. Achte darauf, dass sie genug Luft bekommt.«
    »Das mache ich.«
    Estelle pochte das Herz. Sie würde wieder fliegen.
    »Grégoire, gib mit den Gürtel des Sergents .«
    Grégoire band seinen Hund los, und Tannser legte den Gürtel um Estelles Brust, über ihre Schulter und unter der Achsel hindurch. So war Amparo noch sicherer verwahrt. Er drehte den Speer in Grymondes Hand um.
    »Die Klinge zeigt nach unten. Pass also auf deine Zehen auf. Wenn du hinfällst, lasse ich dich liegen.«
    »Fallen? Gib mir noch einen Stein der Unsterblichkeit, Mann. Und nimm selber einen.«
    Tannser stellte sich hinter Estelle, packte sie unter den Achseln und hob sie hoch in die Luft. Der Magen sank ihr in die Knie. Sie warf die Beine nach oben und landete auf Grymondes Schultern.
    »Berühre sein Gesicht nicht«, sagte Tannser. »Ist Amparo sicher verwahrt?«
    Estelle verschob das Ziegenleder unter ihrem Hemd, so dass es auf einem ihrer Oberschenkel ruhte, und umfasste es mit einem Arm.
    »Alles in Ordnung.«
    Estelle sah, dass eine Gruppe von Jungen und Mädchen aus dem Hof zusammengelaufen war.
    »Wir kommen mit, Meister!«
    »Wir stürmen den verdammten Palast, wenn du es uns befiehlst.«
    Tannser drehte der Bande den Rücken zu und sprach mit Grymonde.
    »Unser Motto muss sein: kühn, aber schlau.

Weitere Kostenlose Bücher