Die Blutnacht: Roman (German Edition)
es ein ganzes Leben gewesen. Sie hatte nie zuvor zu einer anderen Frau aufgeschaut. Sie hatte nie eine Frau gehabt, zu der sie hätte aufschauen können. Alice hatte ihr ihr eigenes Selbst zurückgegeben. Alice war noch in ihr. Sie hoffte, dass sie bei ihr war. Carla nahm die Karte »Kraft« auf und sah sie nicht als Prophezeiung, sondern als Aufforderung, ihre eigenen Kraftquellen zu nutzen. Die Karte deutete auf das Wichtigste, das sie von sich selbst wissen musste. Kraft. Carla hatte sich noch nie schwächer gefühlt. Die Herausforderung der Karte machte es ihr noch deutlicher.
Sie war schwach. Das zuzugeben und zu akzeptieren, das zu sehen und sich nicht davor zu fürchten, das war doch Stärke, oder nicht? Sie war schwach, und sie war im Haus eines Mannes, der mit ihren schlimmsten Feinden verbündet war. Den schlimmsten Feinden ihres Kindes. War sie so schwach, dass sie nur hier warten, im Bett liegen und weinen konnte, bis sie kamen, um sie fortzubringen? Sie schwang die Beine über die Bettkante und setzte sich auf. Die Bewegung löste eine weitere Nachwehe aus, aber Carla schenkte ihr nur wenig Beachtung. Sie stand auf.
Sie ging zum Fenster. Sie konnte schon wieder recht gut gehen, wenn sie einen Grund dafür hatte. Das Zimmer lag hinten im Haus, und aus dem Fenster konnte man den Fluss sehen. Links standen die Häuser auf dem Pont au Change, und vom Kai dahinter kam der Lärm des Massakers. Unter den Häusern am rechten Ufer war der Fluss voller leerer Boote. Im Mondlicht, das sich im Wasser spiegelte, schienen sie in Gruppen zusammengekettet zu sein, aber Carla war sich nicht sicher. An ihrem Ufer waren keine Boote zu sehen. Rechter Hand konnte sie die Hinterseiten der Häuser auf dem Pont Notre-Dame sehen. Sie war auf einer Insel.
Wohin konnte sie gehen?
Sie hatte die Ketten und die Miliz gesehen, die die Brücke sicherten. Garnier hatte zwei Männer vor dem Haus postiert, um seine Frau zu beruhigen. Diesen neuen Posten hatte er seinem Adjutanten, Fähnrich Bonnett, gegeben, der gar nicht erfreut gewesen war, einen so geringen Auftrag zu übernehmen, nicht zuletzt, weil Garnierdamit nur seine eigene Ritterlichkeit unterstreichen wollte. Bonnett war einer von denen gewesen, die den Bratspieß gehalten hatten, mit dem sie Grymonde geblendet hatten.
Carla zuckte bei der Erinnerung zusammen. Grymonde war ein Ungeheuer, das hatte sie nie vergessen, obwohl sie ihre neugeborene Tochter in seinen riesigen Händen gesehen hatte. Und doch hatte irgendetwas in seinem Herzen sie für ihn gewonnen, mehr als die Tatsache, dass er sie liebte. Er liebte sie. Das hatte sie allerdings erst begriffen, als er sein Augenlicht verloren hatte.
Das Schauspiel seiner Blendung hatte ihr beinahe völlig die Fassung geraubt. Sie hatte gesehen, wie die rothaarige Schönheit ihn verspottete, die Frau, die nur Estelles Mutter sein konnte. Sie hatte das hämische Grinsen auf Petit Christians Gesicht erblickt und das Johlen der Soldaten gehört. Sie hatte die erste leere Augenhöhle versengt in Grymondes zerklüftetem Gesicht qualmen sehen.
Gerade hatte sie ihrer Entrüstung Luft machen wollen, als ein Blick voller Liebe aus seinem verbliebenen Auge sie durchdrungen hatte. Grymonde hatte sein großes lockiges Haupt geschüttelt, obwohl zwei Männer ihm von hinten den Kopf festhielten. Sie hatte dieses Kopfschütteln verstanden und gewusst, dass er recht hatte. Sie konnte sein Auge nicht retten. Indem sie den berüchtigten Verbrecher verteidigte, der sie entführt und dabei unzählige Menschen getötet hatte, würde sie nur ihre eigene Position untergraben und ihren Einfluss mindern. Carla hatte geschwiegen, keinen Schrei ausgestoßen und keine Träne vergossen. Sie hatte gegen ihre Scham und ihr Mitleid angekämpft, und doch hätte ihre Vernunft diese Schlacht beinahe verloren.
Nachdem sie ihm auch das zweite Auge ausgestochen hatten, ließen sie Grymonde gefesselt auf den Knien zurück. Petit Christian erklärte Dominic, warum diese Strafe für Leute wie Grymonde schlimmer als der Tod war. Die rothaarige Schönheit brach einen wilden Streit über Geld vom Zaun, und schließlich stillte Dominic seinen Blutdurst, indem er sie mit dem Schwert durchbohrte und ihre Leiche mit dem Kopf zuerst in die Feuerstelle stieß. Als Carla auf dem gleichen Karren von Cockaigne weggefahren wurde, in dem sie gekommen war, schaute sie Petit Christian an. Nur ein einziges Mal. Ihr Kopf schien völlig leer zu sein, aber was immer auf ihremGesicht zu
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