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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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Pflicht auf, zumindest zuzuhören. Sie bezweifelte, ob sie unter anderen Umständen hätte schlafen können. Wie konnte sie, ehe sie Amparo wieder in den Armen hielt?
    Sie hätte das Kind niemals aus der Hand geben dürfen. Wie hatte sie das nur tun können? Das Bild von Estelle, die über den Dächern verschwand, schwebte ihr vor Augen. Sie hatte doch nicht wissen können, dass Garnier sie schützen würde. Dominic hätte sie undAmparo getötet, wenn er die Gelegenheit dazu bekommen hätte. Sie hatte keine andere Wahl gehabt. Amparo war bei Estelle sicherer gewesen. Und doch bereute sie es bitterlich, und die Angst lag ihr bleischwer auf dem Herzen.
    Ihr Körper, der so lange von neuem Leben erfüllt gewesen war, hatte sich noch nicht an die Leere gewöhnt. Solange Amparo bei ihr gewesen war, hatte das kleine Mädchen nicht nur diese Leere, sondern das ganze Universum ausgefüllt. Ohne sie schien es in diesem Universum nur noch Verzweiflung zu geben.
    Selbst Gedanken an Mattias trösteten sie nicht. Sie war verloren, und er würde sie nicht finden. Das Böse, das Paris bis ins Mark verdorben hatte, war zu übermächtig. Sie hatte dieses Böse in den verstümmelten Leichen auf den Straßen gesehen, in dem Gemetzel auf den Kais. Sie hatte die schlimmsten Seiten des Kriegs erlebt, aber dies hier war zu entsetzlich, um es auch nur zu benennen. Und in all dem größeren Unheil lauerte noch Marcel Le Tellier, der sie umbringen lassen wollte. Seltsamerweise war er ihr beinahe gleichgültig. Sie hatte sich noch nie so einsam gefühlt und solche Ängste ausgestanden. Sie sehnte sich nach Amparo, die mitten in die menschliche Finsternis hineingeboren war und sie strahlend hell gemacht hatte.
    Antoinette lag an sie geschmiegt da und war eingeschlafen. Der kleine Trost ihrer Anwesenheit wurde durch Carlas Angst um das Mädchen geschmälert. Antoinette war eine d’Aubray und wahrscheinlich dem Tod geweiht wie ihre ganze Familie. Wenn nicht, dann war sie es jetzt, weil sie bei Carla war. Sie waren hier nicht in Sicherheit, jedenfalls nicht mehr lange. Als Garnier versprochen hatte, sie bei sich aufzunehmen, war er der Anführer seiner Leute gewesen. Er hatte die Befehlsgewalt gehabt. Le Tellier hatte richterliche Gewalt. Die war zwar nicht so unmittelbar, aber viel erbarmungsloser. Er hatte den ganzen Tag über nicht aufgegeben. Dann würde er morgen wohl auch nicht nachlassen.
    Als sie und Antoinette hier angekommen waren, hatte Madame Garnier, die man aus dem Schlaf geweckt hatte, die Anweisungen ihres Mannes mit einiger Verwirrung, aber ohne Murren entgegengenommen. Daraufhin war der Hauptmann wohl wieder zum Hôtel Le Tellier aufgebrochen. Carla hatte es genau wie Antoinette abgelehnt,etwas zu essen. Sie hatte ihre letzte Energie auf die Höflichkeit verwandt, die Tür ihres Zimmers so schnell wie möglich zu schließen.
    Antoinette fing an zu schluchzen. Carla hielt sie in den Armen, konnte sie aber nicht trösten. Auch sie schluchzte. Sie hätten so die ganze Nacht lang weinen können, wenn nicht Antoinette mit dem Genie eines Kindes in der Tasche von Carlas Kleid Alices Karten ertastet hätte. Neugier besiegte die Trauer.
    »Was ist das?«
    »Das sind Spielkarten.«
    Carla zog sie hervor und sortierte sie. Sie zog den Tod und den Teufel heraus und steckte sie wieder in die Tasche. Den Rest zeigte sie Antoinette.
    »Darf ich damit spielen?«
    »Natürlich.«
    »Wie geht das?«
    »Man erzählt Geschichten mit ihnen.«
    »Wie?«
    »Du legst sie nebeneinander. So.«
    Carla legte den Kaiser, die Kaiserin und die Liebenden auf das Bett.
    »Siehst du, dieser Ritter verliebt sich in diese Dame, und sie heiraten.«
    »Was passiert dann?«
    »Schau dir die Bilder an. Und dann entscheide.«
    Antoinette breitete die Karten auf der Bettdecke aus.
    »Es gefällt mir hier nicht«, sagt sie. »Ich will in die Höfe zurück.«
    »Wenn du erst geschlafen hast, fühlst du dich gleich besser.«
    »Sieh nur, die Dame bekommt einen Hund, der sie und den Ritter schützt.«
    Antoinette legte die Karte, die als Kraft bezeichnet wurde, neben die anderen.
    »Eine wunderbare Geschichte, Antoinette. Ich glaube aber, das soll ein Löwe sein.«
    »Ein Löwe? Ist das nicht noch besser als ein Hund?«
    »Viel besser. Nimm die Dame und ihren Hund, und dann könnt ihr alle drei schlafen.«
    Die Karten lagen bei der Kerze auf dem Tisch neben dem Bett.
    Carla dachte an Alice. Sie hatte die Frau nur einen Tag lang gekannt, aber sie vermisste sie so, als wäre

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