Die Blutnacht: Roman (German Edition)
lesen war, wischte ihm sofort das Grinsen vom Gesicht und erfüllte ihn mit Todesangst.
Carla schaute von einer Brücke zur anderen. Sie konnten nicht nach Cockaigne zurück, obwohl sie sich genau wie Antoinette keinen Ort vorstellen konnte, an dem sie jetzt lieber wäre. Sie konnte nicht in das Kloster der Filles-Dieu gelangen und Amparo zurückholen. Auf den Straßen wimmelte es nicht nur von Mördern, sondern auch von Menschen, die heute ihren abscheulichsten Gelüsten nachgingen.
Sie wandte sich vom Fenster ab. Sie nahm die beiden Karten aus der Tasche. Der Teufel war im Kerzenschein nur undeutlich zu sehen. Ein geflügeltes Untier, das sich Leichen ins Maul stopfte. Sie legte die Karte hinter den Tod. Der Anblick des Schnitters und seines Pferdes, die alle Mächtigen niedertrampelten, tröstete sie. Alice hatte diese Karte als ihren Fragensteller ausgewählt, und jetzt kannte Carla den Grund. Alice hatte gewusst, dass für sie die Zeit gekommen war, dem bleichen Schnitter entgegenzutreten. Sie hatte ihn mit offenen Armen empfangen und seinen Rat erbeten. Bei den Karten, die Carla gezogen hatte, war der Tod in anderer Gestalt auf das Feuer des Turms zugeprescht. Aber wie konnte Mattias sie hier finden? Garniers Haus war eindrucksvoll, doch kein Turm.
Carla sammelte die restlichen Karten auf dem Tisch zusammen. Sie schaute sie durch, bis sie das Gericht gefunden hatte. Die erste Karte, die sie gezogen hatte. Gewogen und zu leicht befunden . Daniel in der Löwengrube. Die Löwen fraßen ihn nicht, weil sie seine Geistesstärke erkannten. Und der Tod war nicht nur auf das Feuer zugeprescht, sondern auch auf das Gericht. Sie schaute die Karte näher an. Sie betrachtete das Bild, ohne nachzudenken, versuchte nicht zu verstehen, was sie bedeuten könnte.
Engel mit silbernen Trompeten riefen die Toten aus den Gräbern.
Das Jüngste Gericht.
Sie erinnerte sich an ein Steinrelief, das die gleiche Szene zeigte.
Über dem Portal von Notre-Dame de Paris.
Die Kathedrale war nur wenige hundert Schritte von hier entfernt. Die verkommenen Schurken, die sich auf den Straßen herumtrieben, würden es niemals wagen, diese Zufluchtsstätte zu schänden. Wenn die Frömmigkeit sie nicht aufhielt, dann würde es dieFurcht vor dem Galgen tun. Selbst Marcel Le Tellier würde Zeit brauchen und müsste all seinen Einfluss einbringen, um das Gesetz außer Kraft zu setzen, das ihnen hier Zuflucht gewährte. Inzwischen könnte sie sich selbst – und jedem Priester in der Kathedrale – beweisen, dass sie eine überaus ergebene Tochter der Kirche war. Wie sie es gewesen war, bis sie Alice begegnete. Und obwohl sie Alices Sichtweise übernommen hatte, glaubte sie, dass Mutter Natur auch eine Tochter annehmen konnte, die im verderbten Körper der Kirche noch ein liebendes Herz finden konnte, die in Christus einen Philosophen sah, dessen Meinungen sie teilte.
Am wichtigsten war, dass das Kloster der Filles-Dieu den Eminenzen von Notre-Dame unterstand. Sie war sicher, dass es ihr gelingen würde, das Mitleid dieser Eminenzen zu erregen und ihre Unterstützung zu gewinnen. Und diese Eminenzen hatten die Macht, sie wieder mit Amparo zu vereinen.
Carla steckte die Karten wieder in die Tasche. Sie fühlte sich nicht mehr schwach. Ihr Körper war erschöpft, aber er würde ihr gehorchen. Diese Kraft warf eine ganz andere Frage auf: War sie wahnsinnig, auf ein Gefühl hin zu handeln, das Bilder auf Spielkarten ihr eingeflößt hatten? Nach der Geburt verloren manche Frauen ja den Verstand. Aber wenn sie nun wirklich verrückt geworden war, so lebte sie ja auch in einer Welt des Wahnsinns. Sie überdachte ihren Plan, und er schien ihr vollkommen sinnvoll.
Sie weckte Antoinette.
Auf der Kommode stand eine Waschschüssel mit einem Krug Wasser. Carla benetzte ein Tuch und wusch Antoinette das Gesicht. Das Mädchen ließ es sich gefallen und wirkte erfrischt. Sie schaute auf das Kissen.
»Wo ist mein Löwe?«
»Sicher in meiner Tasche verwahrt. Du hattest recht. Dies ist kein guter Ort. Wir gehen.«
»Zurück zu den Höfen?«
»Heute Nacht kommen wir nicht über den Fluss. Willst du etwas sehr Mutiges für mich tun?«
»Was?«
»Schleiche dich ganz leise zur Treppe. Schau nach, ob unten bei der Haustür jemand ist.«
Antoinette zuckte die Achseln und nickte, als wäre diese Aufgabe eine Kleinigkeit für ein Mädchen, das kürzlich Cockaigne erobert hatte. Carla umarmte sie. Sie machte die Tür auf. Antoinette ging.
Carla wusch sich
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