Die Blutnacht: Roman (German Edition)
musste schon beinahe elf Uhr sein.
Wenn er Carla und den Wagen zu den Lagerhäusern brachte und sie dort versteckte, könnte er sicher zu Fuß am Trupp des Ladenbesitzers vorbeigehen, ohne gesehen zu werden. Der Mond stand im Westen. Die Schatten waren so schwarz wie die Hölle. Von den Lagerhäusern aus konnte er in zehn Minuten bei Irène sein. Das bedeutete, dass er Carla eine halbe Stunde allein lassen musste. Das war ihm eigentlich zu lange. Je länger die Müllerbrücke unbewacht war, desto wahrscheinlicher war es, dass wieder eine Wachmannschaft eingerückt war, wenn sie dorthin zurückkehrten. Wenn er Carla gleich jetzt über den Fluss brachte, konnte er in zwanzig Minuten in der Ville zurück sein und nicht erst in fünfzig.
Dann müsste er, um Pascale zu holen, Carla zwar immer noch allein lassen, sogar länger. Er konnte sie nach Cockaigne bringen. Dorthin würde heute Nacht niemand mehr gehen. Wenn er Pascale holen ging, müsste er noch zweimal über den Fluss, und es wäre lang nach Mitternacht, bis sie das Stadttor erreichten, und dann würden dort die Pilger bereits auf sie warten. Es würde ihn eine gute Stunde kosten, die Kinder nach Cockaigne zu bringen. Diese Stunde konnte seine Frau und sein Kind das Leben kosten.
Er hätte es über sich gebracht, Pascale zurückzulassen. Nicht, weil er sie erst einen Tag kannte, denn einige Verbindungen waren aus einem Stoff gemacht, der noch mysteriöser war als die Zeit. Er wusste einfach, dass seine Skrupellosigkeit so weit ging, dass sein Wille so viel Gewalt über sein Herz und seinen Instinkt hatte. Aber was lenkte diesen Willen, wenn nicht das Herz und der Instinkt?
Er musste seinem Willen befehlen, was zu tun war.
Er wünschte, er könnte Carla fragen, aber er wusste, was sie sagen würde. Wenn er Carla auf diesen Wagen lud, würde er Pascale nicht holen gehen. Sobald er Carlas Gesicht gesehen, sie in den Armen gehalten hatte, beobachtet hatte, wie sie Amparo wiegte, würde er es nicht über sich bringen, sie irgendwo zurückzulassen. Ganz gleich wo. Sein Plan war eine sinnlose Phantasie.
Weder Carla noch sonst jemand hier hatte Pascale je gesehen. Sie wäre nur eine von zahllosen namenlosen Toten, unbekannt und von niemandem in Erinnerung behalten, außer ihm.
Dieser Gedanke behagte ihm auch nicht. Pascale besaß eine Eigenschaft,die er noch bei niemandem, außer bei sich, angetroffen hatte. Ein reines Wissen, eine Klarheit, die sie nicht hatte lernen müssen. Es hatte etwas mit dem Tod zu tun.
Er konnte erst Pascale holen gehen.
Und dann Carla.
Wenn Carla in Garniers Haus war, dann war sie dort in Sicherheit. Wenn sie nicht dort war, dann konnten sie ohnehin nicht bis Mitternacht zur Porte Saint-Denis gelangen. Er konnte den Wagen und die anderen gleich hier verstecken. Pascale holen. Carla und die anderen unterwegs einsammeln. Sie konnten in einer halben Stunde in der Ville sein, alle zusammen. Aber das bedeutete, dass er Amparo hier zurückließ. Estelle konnte sie wahrscheinlich besser schützen als er. Doch er hatte gesagt, dass er sie nie verlassen würde, und er hatte das ernst gemeint.
Die Würfel waren gefallen, die Karten ausgeteilt. Amparos Leben, ihrer aller Leben stand auf dem Spiel. Er hatte zu oft mit dem Schicksal getanzt, um jetzt die Aufforderung zum Tanz auszuschlagen.
»Grégoire, wähle in der Nähe einen Platz aus, wo wir den Wagen verstecken können.«
Grégoire nickte, als wüsste er die Antwort schon.
»Lasst die Fackel brennen, wenn ihr könnt, aber ihr müsst euch verstecken, das ist wichtig. Ich nehme die Laterne mit. Wenn ich in einer Stunde nicht zurück bin, solltet ihr, du und Hugon, die Taschen nehmen und sehen, wie ihr klarkommt. Lasst den mächtigen Infanten zurück.«
»Den Infanten zurücklassen?«, fragte Hugon.
»Der schaut, wie er mit dem Tod zurechtkommt, denn er ist schon ein toter Mann.«
»Ich mag ja tot sein«, sagte Grymonde. »Aber ich werde dafür sorgen, dass sie gehen.«
Estelle stand auf der Ladefläche und drückte Amparo an sich. Tannhäuser schaute sie an.
»Du bist mit dem Drachen geflogen, Estelle. Hast du den Mut, auch mit dem Teufel zu fliegen?«
»Kann Amparo mitfliegen?«
»Der Teufel kann ohne die beiden Schwestern gar nicht fliegen.«
»Können wir meine Armbrust mitnehmen?«
Er begriff, was ihr die Armbrust bedeutete. Er nickte, und sie lächelte.
Er nahm den Streitkolben und drückte Grymonde den Schaft in die Faust.
»Wie soll ich denn dieses Ding benutzen?«,
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