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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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ebenfalls das Gesicht. Ihr Haar war noch zum Zopf geflochten, und sie strich ein paar lose Strähnen zurück. Ihr Kleid hatte unzählige Flecken, aber wenige Männer bemerkten so etwas.
    »Es ist niemand da«, sagte Antoinette.
    Im Eingangsflur stand ihre Gambe. Carla nahm den Kasten auf. Sein Gewicht gab ihr das Gefühl, stärker zu sein. Selbst, wenn sie den Kasten Zoll für Zoll die Straße hätte hochschieben müssen, sie hätte es gemacht. Sie öffnete die Haustür.
    Beide Wachen saßen dösend auf der Treppe, die Laternen und ihre Waffen zu Füßen. Sie wachten nicht auf. Carla stieß Bonnett mit dem Gambenkasten. Er rappelte sich auf, genau wie sein Kamerad.
    »Fähnrich Bonnett, Hauptmann Garnier wird sicher gern hören, dass seine Frau und seine Gäste so wachsame Beschützer haben.«
    »Ich bitte untertänigst um Verzeihung, Madame. Es war ein langer Tag, ich bin schon vor dem Morgengrauen aufgestanden …«
    »Ich auch. Wir gehen zur Matutin nach Notre-Dame.«
    »Matutin?«
    »Zum mitternächtlichen Offizium. Psalmen, Lesungen aus der Heiligen Schrift und der Apostelgeschichte.«
    »Ja, Madame. Zur Matutin. Aber es kann doch noch nicht viel nach elf Uhr sein.«
    »Ihr habt ein gutes Zeitgefühl, auch wenn Ihr im Dienst schlaft. Ich werde doch wohl noch in der Kathedrale beten dürfen. Muss der Hauptmann auch erfahren, dass Ihr Euch geweigert habt, seine Schutzbefohlenen zur Kirche zu begleiten? Oder habt Ihr im Dunklen auf der Straße Angst? Wenn das so ist, dann gehen wir allein, denn wir fürchten uns nicht.«
    Bonnett sah den Gambenkasten. Er schaute zu Carla auf.
    Sie blickte zu ihm hinunter.
    »Machen sie in der Matutin Musik, Madame?«
    Sie starrte ihn wortlos an. Bonnett verneigte sich.
    »Madame, bitte lasst mich Euer Gepäck tragen.«Carla war froh, im Freien zu sein. Obwohl sie nur kleine Schritte machte und ihr Becken eine einzige schmerzhafte Masse war, freute sie sich, zu Fuß unterwegs zu sein. Antoinette hielt sie bei der Hand, als sie sich auf den Weg nach Osten machten und auf den Pont Notre-Dame mit seiner Kette und seinem Trupp von vier Milizsoldaten zugingen, die über einem Kohlenfeuer Kastanien rösteten. Dann ging es weiter nach Süden, an Saint-Christophe vorüber und wieder nach Osten auf die Türme von Notre-Dame zu.
    Vor einigen Häusern und Geschäften standen draußen angeheuerte Wachleute. Sie nickten Bonnett zu, als sie vorübergingen, und obwohl Carla den Mann verachtete, war sie doch froh, einen Begleiter zu haben, der so bekannt war. Sie kamen am Hôtel-Dieu vorüber. Anders als auf den Straßen der Ville lagen hier keine Leichname. Doch Carla hatte keine Zweifel, dass es auch hier welche gegeben hatte. Das Wasser des nachmittäglichen Schauers war verdunstet, nur in den tieferen Pfützen stand noch etwas. Aber die schwarzen Flecken, die hier und da an einer Mauer oder einer Tür zu sehen waren, hatte es nicht weggewaschen. Die atemlose Stille, die Carla am Morgen verspürt hatte, war in der Nacht noch intensiver geworden. Sie lag über allem wie ein unsichtbarer Nebel, war inzwischen noch durch Angst und Schrecken verstärkt, sogar durch Scham, wenngleich davon auf den Gesichtern der Soldaten nicht viel auszumachen war.
    Sie erreichten den Vorplatz der Kathedrale, und Carla bemerkte das klebrige geronnene Blut unter ihren Sohlen. Sogar diesen Ort hatten sie geschändet. Der Mond stand hinter ihnen beinahe ganz oben am Himmel. Die verzierte Fassade der Kathedrale bildete ein riesiges Mosaik aus Silber und tiefstem Schwarz. Das Jüngste Gericht war im Schatten verborgen. Die großen Türen unter dem Relief standen weit offen. Ein schwacher Schimmer leuchtete von innen, verbreitet von Hunderten bisher unsichtbarer Kerzen. Drei Milizmänner lungerten um den Eingang herum, vermutlich, um Hugenotten auszusondern, die hier Zuflucht suchten. Wieder einmal war sie froh über Bonnetts Begleitung. Sie beugte sich zu dem Mädchen herunter.
    »Antoinette? Hier sind wir sicher, bis wir Gewissheit haben, dass wir anderswo Zuflucht finden. Zumindest bis zum Morgen. Deine Geschichte hat uns hergebracht. Ich danke dir dafür.«
    »Meine Geschichte?«
    »Die du mit den Karten erzählt hast, von der Dame mit dem Hund.«
    Plötzlich trat Bonnett zurück. Er ließ Carla, der das nicht entging, in Reichweite der Gefahr, die zu drohen schien, und zog sein Schwert.
    Eine schmale Gestalt kam von der nördlichen Seite des Platzes auf sie zugerannt. Mit einer Hand hatte sie den Rock um die Schenkel

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