Die Blutnacht: Roman (German Edition)
geschritten. Wenn sie jetzt in Ohnmacht fiel, würde man sie vielleicht gar nicht bemerken, denn es lagen viele Menschen auf den Bodenkacheln ausgestreckt. Sie setzte ihren Gambenkasten ab, schlüpfte in die nächste Kirchenbank und zog Antoinette hinter sich her. Alles schwamm ihr vor Augen. Sie senkte den Kopf auf die Knie. Es war die Leere in ihrem Inneren. Sie zehrte sie von innen auf. Sie musste ihr Kind zurückbekommen. Sie sah Amparos Gesicht vor sich. Was, wenn sie Amparo nie wiedersehen würde? Die Nonnen würden ihr einen anderen Namen geben. Irgendjemand würde sie adoptieren. Wie bald? Eine Amme würde sie stillen. Heute Nacht? Sie würde Hunger haben. Sie würde allein sein. Die Erinnerung an die Wärme und Liebe, in die Amparo hineingeboren war, ließ einen ungeheuren Seufzer aus Carlas Herz heraufsteigen. Estelle. Alice. Ihre Mutter.
Wie konnte das Kind nicht merken, dass all das fort war?
Was hatte sie bloß gemacht?
Der Priester. Sie musste einen Priester finden.
Carla versuchte aufzustehen, konnte aber nicht. Sie spürte, wie etwas aus ihr herausglitt.
Hier war eine Zufluchtsstätte.
Sie bedeckte ihr Gesicht mit ihren Röcken und weinte, zu leer, um Gott anzurufen.
KAPITEL 32
E IN MERKWÜRDIGER G OTT
Tannhäuser schlängelte sich ungesehen über den Markt beim Port Saint-Landry. Er sah niemanden. Er stellte die Lampe neben das Stalltor und hob Estelle von den Schultern. Amparo schlief. Sie war ein kleines Wunder. Er nahm Estelle bei der Hand. Sie schritten um einen Leichnam herum, dem jemand die Kehle durchgeschnitten hatte und der nun halb auf einem Dunghaufen lag. Sie schlichen durch die tiefen Schatten zu Irènes Gasthaus.
Er blieb ein paar Häuser vorher in einer Gasse stehen.
Er sah kein Anzeichen für einen Späher. Le Tellier hätte doch mindestens einen Mörder geschickt, der hartherzig genug war, um drei Kinder umzubringen, einen Baro, keinen Frogier und dazu zwei verruchte Schurken, die sie festhalten und Wache stehen würden. Sie erwarteten ihn. Man hatte sie ausgeschickt, um ihn lebendig gefangenzunehmen. Für diese Gesellen wäre das nur eine unter Tausenden von Verhaftungen, von der sie erwarteten, dass sie genauso verlaufen würde wie immer. Irène würde ihm die Tür aufmachen. Sie log wahrscheinlich wie gedruckt. Ein Mann würde sich unten verstecken, vielleicht zwei? Mindestens einer würde oben bleiben und Pascale bedrohen. Er entsicherte seine Pistole und lud die Armbrust.
»Estelle, wartest du hier und passt auf meinen Bogen auf ?«
Sie nickte.
»Was machst du, wenn ich nicht wieder herauskomme?«
»Mit Amparo wegrennen und unser Leben leben.«
»Du bist ein schlaues Mädchen.«
»Aber du kommst wieder raus.«
»Natürlich.«
Er stieß sich von der Mauer ab. Er konnte in Irènes Haus kein Licht sehen. Er ging zum Fenster und drückte die Nase an die Scheibe. Aus der Küche war ein schwacher Lichtschein zu sehen. Er hämmerte dreimal an die Tür, kehrte zum Fenster zurück und sah, wie eine Kerze näher kam. Die Gestalt einer Frau. Er schrie durch die Tür.
»Madame Irène? Hier ist Sergent Baro.«
Die Tür bewegte sich, und er drückte sie auf und drängte sich mit gesenkter Armbrust an Irène vorüber. Pulvergestank. Ein Toter lag am Fuß der Treppe auf dem Bauch.
»Sie sind alle weg.« Irènes Gesicht war ausgemergelt. »Außer den Leichen.«
Tannhäuser nahm ihr die Kerze aus der Hand.
Man hatte dem Sergent die untere Hälfte des Gesichts weggeschossen. Ein großes Loch klaffte hinten in seinem Nacken. Eine Gewehrkugel – aus so kurzer Reichweite, dass Hemd und Haar versengt waren. Tannhäuser schaute die Treppe hinauf. Finsternis.
Er ging rasch hinauf. Verdicktes Blut verschmierte die oberen Stufen und schimmerte burgunderrot und gallertartig auf dem Treppenabsatz. Eine zweite Leiche lag dort, nach hinten gebeugt. Oberschenkel und Bauch waren blutverkrustet.
Pascale hatte zwei Sergents umgebracht. Juste hatte vielleicht einen erschossen, aber Tannhäuser mochte das nicht glauben. Pascale hatte nicht nur die Kameradschaft haben wollen, sondern auch das Wissen.
Das vordere Schlafzimmer war leer. Im hinteren reichte das Mondlicht aus, um in seinem Schimmer eine Leiche unter einem Laken auszumachen. Tannhäuser zog das Tuch weg. Flore. Er hatte sie gemocht. Juste hatte sie geliebt. Und Pascale auch. Er breitete das Laken wieder über sie. Es waren keine weiteren Leichen zu sehen.
Juste und die Mäuse lebten. Pascale hatte Le Telliers Männer
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