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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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bemerkte sofort, dass das Schiff nach Backbord schwenkte und drehte sich um.
    Die Ruderpinne war hinter ihm scharf herumgeschwungen. Er packte sie und drückte. Das Ruder bewegte sich schwer, als steckte es in Schlamm, und dann saß es fest. Er hörte einen leisen Schrei. Dann sah er eine kleine weiße Hand, die den Schwanz der Meerjungfrau an der Pinne packte. Die Hand hielt fest.
    Tannhäuser ließ die Ruderpinne los, und sie schwang herüber, während er sich mit Kopf und Schultern über das Heck beugte. Ein Junge klammerte sich an die Steuerbordseite des Ruders. Er keuchte Bäche von Flusswasser hervor. Der Kahn musste ihn überholt haben, und der Junge hatte seine Chance ergriffen. Soweit Tannhäuser sehen konnte, war er nackt, und er trat mit aller Kraft, um sich aus dem Wasser zu befreien. Das Ergebnis war, dass er das Ruder noch weiter nach Backbord bewegte und den Kahn noch weiter abdriften ließ.
    Tannhäuser kniete sich auf die Ruderbank und langte nach unten, um ihn an Bord zu zerren.
    Tannhäuser hatte die Erfahrung gemacht, dass es, wenn man es in über dreißig Schritt Entfernung mit einer Musketenkugel aus einem Gewehr mit glattem Lauf zu tun bekam, am sichersten war, wenn man das anvisierte Ziel war. Musketen taugten – abgesehen davon, dass sie Furcht und Schrecken verbreiteten – eigentlich nur zu Salven gegen eine Masse von Feinden. Dominics Männer hatten sich gut aufgestellt und zeigten große Geduld. Ihre sechs Musketen konnten eine Salve schießen, und der Kahn bot eine genügend große Masse. Durch das plötzliche Abdriften war nun das Heck nicht mehr durch die Redoute geschützt.
    Tannhäuser packte den Jungen am linken Arm und unter derrechten Achsel. Während er zog, sah er einen Lichtblitz von einer Reihe aufflammender Zündpfannen, riss den Jungen an sich und warf sich seitwärts aufs Deck. Er spürte, wie etwas ihn hart im Magen traf, landete schwer und keuchte. Er rollte sich auf den Rücken. Er merkte, dass ihm Blut über die Seite floss; aber er wusste, dass es nicht seines war. Der Junge hing schlaff und schwer auf ihm. Tannhäuser hob ihn sich von der Brust, sah ihm ins Gesicht und schaute über den blutverschmierten Körper. Die Musketenkugel steckte in einer Blutlache in seinem Bauch. Tannhäuser legte den Jungen zur Seite, erhob sich auf ein Knie, und die Kugel fiel hin und rollte weg.
    Das Ruder.
    Mitten in der Bewegung hielt er inne, weil sein Auge etwas wahrgenommen hatte, ehe er es verstanden hatte.
    Er kniete sich wieder hin.
    Unterhalb des Kiefers hatte der Junge ein scharlachrotes Muttermal am Hals.
    Vor seinem inneren Auge sah Tannhäuser, wie die Mutter dieses Mal schnell mit der Hand zugedeckt hatte, als fürchtete sie, er würde es als Zeichen des Bösen auffassen. Der Junge hatte ihm am Stadttor von Paris ein Lächeln geschenkt, und es war der willkommenste Anblick seit vielen Tagen gewesen. Er nahm den Jungen bei den Schultern. Der Kopf sackte zur Seite und verdrehte sich.
    »Ihr wart weg. Warum seid ihr zurückgekommen?«
    Tannhäuser wusste nicht, warum er so erschüttert war. In diesem Fluss schwammen mehr tote Jungen als Fische. Er hatte ohne die geringsten Skrupel solche Jungen weggeräumt, die Grymonde im Weg gewesen waren.
    »Ich kenne dich nicht, Junge. Wieso hast du mich gekannt?«
    Aus der Jauchegrube des Ekels, in der zuunterst seine frühesten Erinnerungen lagen und die er sich nur sehr selten zugestand, stieg ihm widerlicher Abscheu in den Hals. Er kannte den Jungen. Er beneidete den Jungen. Für den Jungen war alles vorüber und vorbei.
    Er legte ihn aufs Deck. Er ließ seine Schultern los.
    Er stand auf und zog an der Ruderpinne.
    Sie bewegte sich nicht.
    Er rüttelte daran. Sie steckte fest. Er beugte sich über das Heck und fuhr mit den Fingern zwischen dem Achtersteven und demRuder entlang. Eine Musketenkugel, so dick wie sein Daumen, war zwischen der Öse des obersten Zapfens und dem Holz des Ruders eingeklemmt, und der Arm des Stahlzapfens hatte ihre Oberseite quadratisch gehobelt. Die Kugel war noch warm. Er versuchte sie herauszukratzen und brach sich dabei einen Fingernagel ab. Das heiße Blei war in den Zwischenraum gequetscht worden und mit dem Eisen verschmolzen. Das Ruder steckte backbord fest. Er packte die hintere Seite des Ruders mit beiden Händen und zog und schob. Holz ächzte. Er tastete noch einmal die Bleikugel ab. Sie war weiter verformt, steckte aber noch genauso fest. Sie mit einem Dolch herauszuholen würde länger dauern,

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