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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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Grégoire. Die Ruderpinne bebte in Carlas Hand. Ein Geist hatte das Ruder gepackt.
    Carla verdrehte sich, ihr Bauch verkrampfte sich, sie stand halb auf und drückte mit aller Kraft. Das Ruder bewegte sich ein wenig, wurde dann aber hart zurückgeschoben. Pascale landete auf dem Rudersitz jenseits der Ruderpinne, ihr Arm senkte sich mit einem stählernen Blitzen, und Carla hörte Schreie – Pascales Schreie, die des Geistes – und sah aus dem Augenwinkel einen blutenden Hals, ein Gesicht und eine Klinge, die in den offenen Mund gestoßen wurde. Das Ruder war wieder frei. Carla sah, wie Mattias den Bogen hob und schoss. Sie hörte, wie ein weiterer Köper hinter ihr ins Kielwasser fiel. Mattias hob den Bogen und spannte die Sehne wieder, entspannte ihn dann und senkte die Waffe, ohne zu schießen. Carla schloss daraus, dass sie entkommen waren.
    Sie schaute nach achtern. Keine Spur von der Frau oder ihrem Kind. Die übrig gebliebenen Geister ließen ihren Unmut an den zusammengebundenen und schreienden Unschuldigen aus. Mit Speeren und Schwertern, Stiefeln und Messern. Dann hüllte die Nacht die Gerechten und die Verdammten in dieselbe undurchdringliche Dunkelheit ein, und Carla wandte sich ab.
    Pascale wischte den Dolch an ihrem Rock ab und steckte ihn in das Futteral. Blut war ihr auf Wangen, Lippen und Hals gespritzt. Sie schaute Carla nicht an. Sie kehrte zu ihrer Ruderbank zurück, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte. Juste und Grégoire weinten mit ihr. Estelle blickte zu Carla auf, und auch deren Lippen bebten. Sie hatten vor Mattias eine tapferere Miene aufgesetzt, aber das überraschte Carla nicht. Jetzt fühlte sie sich irgendwie angegriffen, und obwohl keines der Kinder es verdient hatte, flammte Wut in ihr auf, als hätte sich in ihrem Inneren eine verborgene Kraft aufgetan.
    »Pascale, diese Frau ist in Hoffnung gestorben. Sie ist aufrecht gestorben. Sie ist gestorben, als sie für ihr Kind gekämpft hat. Sie hat nicht überlebt, aber sie hat gewonnen.«
    Pascale nahm die Hände nicht vom Gesicht. Sie hörte auf zu weinen.
    Carla hörte Alices Stimme.
    Sie sind jetzt alle deine Söhne und Töchter, Liebes.
    Du bist ihre Mutter.
    Du warst schon immer ihre Mutter.
    Carla hatte dieses Gefühl nie zuvor gespürt. Sie hatte nie geglaubt, das Recht zu haben, Orlandus Mutter zu sein, obwohl er in ihr gewachsen war, genau wie Amparo. Sie hatte diese Rolle nicht verdient, sie hatte sie verraten. Jetzt war es da, dieses Wissen. Alice hatte die Wunde geheilt, die nicht zu heilen war. Sie war Mutter. Alle waren sie ihre Söhne und Töchter. Das Gewicht dieses Gefühls wog ungeheuer schwer, und doch verspürte sie in diesem Gewicht seine Kraft und seine Schönheit.
    »Pascale.«
    Pascale ließ die Hände sinken und schaute zu ihr. Carla holte tief Luft. Sie hatte sich so sehr an die unverwüstliche Natur des Mädchens gewöhnt, dass die schiere Verzweiflung in Pascales Gesicht sie jetzt entsetzte. Pascale war kaum mehr als ein Kind. Dass es ihr nicht gelungen war, das unbekannte Kind zu retten, welches andere furchtbare Versagen hatte es ihr wohl in Erinnerung gebracht?
    »Pascale, du bist tapferer, als ich es je gewesen bin.«
    Pascale sagte nichts.
    »Sei also mehr als tapfer. Wenn wir über die fünf Flüsse des Hades fahren würden, von einem Ende zum anderen, wir würden dort nicht solche Verzweiflung an den Ufern finden wie hier an den Ufern dieses Flusses. Und doch hast du mitten in all dem dieser Frau Hoffnung geschenkt, und sie hat die Hoffnung mit ihrem letzten Atemzug in ihre Seele aufgenommen. Heute Nacht gibt es kein kostbareres Geschenk. Nicht einmal das Leben.«
    »Heute Nacht ist das Leben nichts wert.«
    »Hör auf Carla, Mädchen.«
    Grymonde drehte das Ruderblatt ab, lehnte sich vor, tauchte ein und zog. Sein Schmerz musste ungeheuerlich sein. Die Höhlen in seinem Gesicht leuchteten im Mondschein und in einem seltsamen Frieden.
    »Gib die Hoffnung nie auf, sonst geht uns was verloren, und wir finden es nie wieder auf diesen dunklen Gewässern. Und das Leben, das ist nichts als eine lodernde Flamme. Lasst uns also hell brennen.«
    Pascale wischte sich übers Gesicht und drehte sich zu ihm um. »Du meinst, wie Hervé?«
    Grymonde sackte lachend über den Rudern zusammen. Agnès und Marie kicherten.
    »Ich liebe Frauen, die eine scharfe Zunge haben.«
    »Ich will rudern«, sagte Pascale.
    Grymonde zog seine Ruder auf den Schoß, und Pascale schaute zu Carla, die nickte. Pascale legte

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