Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Streich spielte oder ob dies nur eine weitere merkwürdige Erscheinung ihrer Schwangerschaft war. Sie schaute noch einmal hin. Etwas löste sich von dem Mädchen und huschte fort.
Carla wandte sich angewidert ab.
Das Mädchen war von Ratten bedeckt.
Carla liefen kalte Schauer über den Rücken. Sie legte beide Hände auf den Bauch. Das Kind schien ungerührt. Carla konnte nicht anders, sie musste erneut hinschauen. Es stimmte. Die zuckende Bewegung wurde durch einen lebendigen Umhang aus Ratten hervorgerufen. Zu ihrer Erleichterung stellte Carla fest, dass das Mädchen nicht angegriffen wurde. Vielmehr schien es im Frieden mit diesen Geschöpfen zu sein. Mehr noch, sein Kinn war in einer Art ekstatischer Verzückung vorgereckt. Ihre Hände glitten zwischen den Tieren hin und her, streichelten das braune Fell, als liebkosten sie einen Liebhaber. Carla trat vom Fenster zurück. Sie würgte die Galle herunter, die in ihr hochstieg. Sie brauchte ein Glas Wasser.
Ehe sie sich mehr mit dem Mädchen beschäftigen konnte, tauchten zwei Männer aus einer Gasse neben dem Gebäude auf. Carla zog sich weiter zurück und beobachtete die Szene.
Ein Mann war so riesig, mit ungeheuer breiten Schultern und einem gewaltigen Kopf, dass er bei jedem Schritt von einer Seite zur anderen schwankte, als könnte er nur so das Gleichgewicht wahren. Gedanken an die Titanen der griechischen Mythologie kamen ihr, jene Kinder der Gaia, die einmal die Erde beherrscht hatten, ehe die Götter sie stürzten. Er trug eine grüne Kniehose und ein gelbes Hemd, und sein Gesicht war im Schatten. Der zweite Mann war so dünn wie ein Schilfrohr und hatte sein Haar zu einem geteerten Zopf geflochten. Messer hingen von ihren Gürteln.
Keinen der beiden schien der Anblick des Rattenmädchens zu verstören.
Das Mädchen rappelte sich auf, und die Nagetiere stoben in einer atemberaubenden Welle fort und verschwanden ins Nichts. Der Titan sprach mit dem Rattenmädchen und deutete auf etwas im Himmel über dem Hôtel d’Aubray.
Carla wurde übel.
Das Ziel der Kampagne war offensichtlich das Gebäude, in dem sie stand.
Das Rattenmädchen schaute auf – zu einem Punkt, der so unmittelbar über Carla zu sein schien, dass sie beinahe selbst hochsah. Das Mädchen schüttelte heftig den Kopf. Der Mann mit dem Zopf beugte sich zu ihm und brüllte es wohl an, schlug ihm dann mit solcher Gewalt ins Gesicht, dass es zu Boden fiel. Carla zuckte zusammen. Sie zuckte erneut, als der Titan den anderen beim Zopf packte und seinen Kopf gegen die Wand schleuderte. Hätte er ihn nicht aufrecht gehalten, so wäre auch der Mann mit dem Zopf zu Boden gegangen. Der Titan murmelte ihm etwas ins Ohr und ließ ihn los.
Das Rattenmädchen stand auf und hörte sich die Anweisungen des Titanen an, und diesmal nickte es. Dann nahm es ein kleines Messer aus dem Gürtel und reichte es dem Titanen. Der mit dem Zopf nahm sie bei einem ihrer dünnen Arme, und sie gingen in südlicher Richtung die Straße hinunter.
Der Titan schaute zum Hôtel d’Aubray hinüber. Carla konnte seine Züge nicht ausmachen, nur sein riesiges, glatt rasiertes Kinn. Er hob das Gesicht. Einen Augenblick lang hatte sie den Eindruck, dass er sie direkt ansah. Sie machte einen dritten Schritt weg vom Fenster. Der Titan wandte sich ab und ging mit wankenden Schritten die Gasse hinunter. Nun lag die Straße wieder verlassen im Mondlicht, und doch hatte der Titan den unheimlichsten aller Gäste hinterlassen. Nicht bloß Furcht, sondern die Vorahnung einer Katastrophe.
Carla schritt im Zimmer auf und ab. Sie versuchte, all ihre Ruhe heraufzubeschwören. Sie fragte sich, ob das, was sie gesehen hatte, nur ein weiteres seltsames Vorkommnis in dieser turbulenten Stadt war. Aber der Titan hatte nicht einfach zum Hôtel d’Aubray aufgeschaut; er hatte es eingehend gemustert. Sie eilte zum hinteren Fenster und sah herunter.
Altan Savas hatte sie von La Penautier hierher begleitet. Er war ein in Serbien geborener Galeerensklave, den Mattias vor vier Jahren den Rittern auf Malta abgekauft hatte. Wie Mattias war er einmal ein Janitschar des Großtürken gewesen. Er genoss das völlige Vertrauen ihres Mannes, eine Ehre, die so wenigen zuteilwurde, dass Carla keinen anderen Namen einer lebenden Person nennen konnte.Trotz der gemeinsamen dreiwöchigen Reise vom Süden nach Paris hatte Carla das Gefühl, Altan Savas kaum zu kennen. Er lebte in seiner eigenen Welt. Er betete zu Allah, obwohl er das nur wenige wissen ließ.
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