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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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sehen. Nach dem Sonnenuntergang versank die ganze Stadt in Finsternis, aber hier und da konnte sie kleine gelbe Lichter ausmachen.
    Als sie angekommen war, hatte sie, die nur ans Landleben gewöhnt war, die Gegenwart so vieler anderer Menschen beinahe körperlich empfunden. Es war, als bildeten ihre unzähligen und einzelnen Seelen ein einziges Ganzes, wie Wassertropfen ein Meer. Das war gleichzeitig erregend und furchtbar. Würde ihr Schiffchen unter Wasser geraten oder Schiffbruch erleiden, oder würde es von der Strömung mitgetragen werden? Nach zehn Tagen spürte sie die Gegenwart der anderen wesentlich schwächer. Sie hatte weder Schiffbruch erlitten, noch war sie fortgeschwemmt worden. Sie hatte sich in den Wellen aufgelöst.
    Paris stieß sie ab und faszinierte sie beinahe im gleichen Maße. Innerhalb von vier Tagen hatte sie jeglichen Geruchssinn verloren, obwohl sie ihre Kleidung in Parfüm ertränkt hatte. Die Menschen der Stadt, gleich welchen Standes, führten ihr Leben mit einer fanatischen Wildheit, als erwarteten sie, den nächsten Tag nicht mehr zu erblicken. Diese Vitalität fand sie mitreißend. Die Grausamkeit der Stadt entsetzte sie. Dieser Gedanke brachte sie zu einer weiteren Sorge, der um ihren Sohn Orlandu. Er war irgendwo da draußen in der Nacht, aber sie wusste nicht, wo.
    Ihn wiederzusehen wäre eine größere Freude, als sie seit vielen Monaten erlebt hatte. Weit mehr als die bevorstehende Hochzeit, die ihr ein Geleit und eine Entschuldigung geboten hatte, war die Aussicht, ihren Sohn wieder in die Arme zu schließen, ihr Beweggrund dafür gewesen, dass sie nach Paris gekommen war. Eine Woche lang hatten sie jeden Tag mehrere Stunden miteinander geredet. Die meisten Nächte hatte sie hier im Hôtel d’Aubray verbracht, und er hatte darauf bestanden, hinten im Garten zusammen mit Altan Savas sein Lager aufzuschlagen.
    Es hatte sie schockiert, beinahe enttäuscht, dass Orlandu zum Mann herangewachsen war. Er war beinahe ein Jahr von zu Hause fort, aber dass er sich in der Hauptstadt allein durchschlagen musste,hatte tiefere Veränderungen bewirkt als die Zeit allein. Orlandu hatte die Überschwänglichkeit nicht verloren, die ihn erstrahlen ließ und die sie so sehr liebte, aber sein Licht schien überschattet, leuchtete wie eine Kerze hinter buntem Glas. Das Überleben in Paris könnte die Veränderung erklären, obwohl er sich gehütet hatte, ihr zu viel über sein Leben außerhalb des Collège und seiner Studien zu erzählen. Das war vielleicht normal. Sie hatte ihren Eltern auch nichts von ihrem inneren Leben berichtet. Was sie am meisten verstörte, war, wie sehr er inzwischen seinem Vater Ludovico ähnelte, nicht nur in der massiger gewordenen Gestalt und in den obsidianschwarzen Augen, sondern auch in der dunkler werdenden Intensität seiner Seele.
    Sie hatte Orlandu seit Freitag nicht gesehen, als er in einiger Erregung zu ihr gekommen war, um ihr zu berichten, dass man auf Admiral Coligny geschossen hatte und dass der Ball der Königin abgesagt worden war. Sie hatte ihn eingeladen, ihr Gesellschaft zu leisten, was sie sehr viel mehr schätzte als einen Ball, aber er hatte ihr anvertraut, dass er dringende Verpflichtungen hatte, und versprochen, er würde so bald wie möglich wiederkehren.
    Carla stützte ihre Hände in die Hüften und dehnte ihren Rücken. Das Kind bewegte sich. Carla lächelte. Sie war inzwischen an diese raschen Stimmungsumschwünge gewöhnt. Die Sorgen um ihren älteren Sohn würden warten müssen. Sie wollte nicht alle anderen aufwecken, die Kinder nebenan oder Symonne im Stockwerk darunter, aber sie brauchte Bewegung. Ihr täglicher Ausritt fehlte ihr. Das Hôtel d’Aubray war ein großes Haus tief und im neuen, geräumigen Stil des Monsieur Cerceau errichtet. Ein zweites Fenster an der anderen Seite des Schlafzimmers schaute auf die Rue du Temple. Carla schritt durch das Zimmer und lehnte sich auf das vordere Fensterbrett, um ihren Rücken zu entlasten. Durch den dünnen Schleier des Vorhangs erregte eine Bewegung auf der anderen Straßenseite ihre Aufmerksamkeit. Sie zog den Musselin zur Seite.
    Ein junges Mädchen saß im Schneidersitz mit dem Rücken zur Wand des gegenüberliegenden Gebäudes. Sie regte sich nicht – ihr kleines weißes Gesicht war starr –, und doch schien sich gleichzeitig ihr Körper in langsamen Zuckungen zu winden, und ihr Torsoschien viel zu groß für ihren Kopf zu sein. Carla zwinkerte und fragte sich, ob die Nacht ihr einen

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