Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Sie hörte ihn kaum je Französisch sprechen, aber er und Mattias unterhielten sich stundenlang auf Türkisch. Altan hatte auf eigenen Wunsch auf einem Strohsack im Garten sein Lager aufgeschlagen. Wenn sie seine Erklärung dafür, eine Mischung aus Worten und Pantomime, richtig verstanden hatte, so hatte er gesagt: »Wenn ein Löwe im Haus schläft, kann er seine Beute nicht riechen.«
Als sie nach unten schaute, sah sie, dass der Strohsack verlassen dalag.
Carla zog ein Kleid aus hellgelbem Leinen an, das so geschnitten war, dass es ihrem Zustand angepasst war. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie kaum einen Gedanken fassen konnte. Um ihren Puls zu verlangsamen und einer der unwiderstehlichen Launen nachzugeben, die sie in dieser Schwangerschaft öfter als in den anderen heimsuchten, nahm sie sich die Zeit, ihr Haar zu flechten. Die Aufgabe beruhigte sie, und mit dem Zopf fühlte sie sich stärker; warum, wusste sie nicht. Da sie sich, einer weiteren Laune folgend, das Haar nicht geschnitten hatte, seit sie wusste, dass sie schwanger war, fiel der Zopf ihr fast bis zur Taille.
Carla ging zur Tür und trat auf den oberen Flur. Fenster erleuchteten das Treppenhaus von hinten und vorn. Eine Leiter führte zu dem engen Zimmer auf dem Speicher, wo Denise und Didier schliefen, die Haushälterin und ihr Mann, arme Verwandte von Symonne. Am anderen Ende des Flurs lag das Kinderzimmer. Carla öffnete die Tür und schaute hinein. Die vier Kinder der d’Aubrays – Martin, Lucien, Charité und Antoinette – schliefen in zwei Betten. Martin und Lucien hatten ihr Zimmer aufgegeben, um Raum für Carla zu machen.
Carla schloss die Tür. Eine weitere Wehe setzte ein. Sie lehnte sich an die Wand und atmete tief durch. Es war bisher die stärkste Wehe. Carla stellte die Furcht in Frage, die in ihr aufwallte. Es war mitten in der Nacht, und da schienen alle Dinge seltsam. Sie hatte ein paar merkwürdige Gestalten auf der Straße gesehen. In Paris gab es davon ganze Heerscharen. Sollte sie Symonne im Stockwerk darunteraufwecken und erschrecken? Wo war Altan Savas? Die Wehe ebbte ab, aber nun fühlte Carla sich sehr schwach.
Sie kehrte in ihr Zimmer zurück und schloss die Tür. Sie trank ein wenig Wasser und kehrte zum vorderen Fenster zurück. Die Rue du Temple war menschenleer. Sie beschloss, in den Garten hinunterzugehen. Als sie sich umwandte, meinte sie, ein Geräusch zu hören – ein dumpfes Poltern –, das hinter der Giebelwand herzukommen schien. Carla eilte zur Tür. Ein gedämpfter Angstschrei ließ sie anhalten. Kleine Brocken Schlacke fielen in den Kamin, dann stob eine Rußwolke auf. Einen Augenblick später folgten zwei Arme, Locken und ein Kopf.
Ein kleiner, magerer Körper kam aus dem Kamin gepurzelt, nackt von der Taille bis zu den Füßen.
Carla starrte auf das Rattenmädchen.
Die Kleine kroch hervor und hustete. Ihr raues Wollkleid war ihr bis zu den Hüften hochgerutscht, an denen sich frische Schrammen zeigten. Sie hatte sich bei ihrem Abstieg auch die Ellbogen verletzt. Das lange, lockige Haar war so fettig und verfilzt, dass der Ruß kaum haften konnte. Die Locken schienen dunkelrot zu sein.
Sie schaute auf und erblickte Carla.
Wilde, graue Augen glitzerten im rußverschmierten Gesicht.
Carla war verblüfft. »Hast du dir wehgetan?«
Das Rattenmädchen antwortete nicht. Es rappelte sich auf die Füße. Es war nur Haut und Knochen, schlecht ernährt, aber älter als Carla gedacht hatte, vielleicht neun oder zehn. Die Kleine hustete erneut. Carla ging zum Tisch und schenkte ein Glas Wasser ein. Sie trat vor und bot es dem Mädchen an. Mit einem raschen Blick erfasste das Rattenmädchen Carla, das Zimmer, das Glas.
»Wenn Ihr versucht, mich aufzuhalten, bringe ich Euer Kind um.«
»Das werde ich nicht versuchen.«
Das Mädchen packte das Glas und trank es aus. Sie reichte es Carla zurück.
Carla sagte: »Du bist mit dem Kopf voran durch den Kamin gekommen?«
»Gobbo hat mich mit dem Kopf zuerst reingestoßen, damit ich nicht wieder herausklettern konnte.«
Sie ging zum Fenster und schaute heraus. Sie schien Angst zu haben, aber nicht vor Carla.
»Ich bin im falschen Zimmer.«
Der Schornstein auf dieser Seite des Hauses war mit den Kaminen in Carlas Schlafzimmer, im Salon im Untergeschoss und im Geschäftszimmer im Erdgeschoss verbunden. Keiner dieser Kamine war im Sommer benutzt worden. Der zweite Schornstein in der südlichen Giebelwand bediente die Kamine im Kinderzimmer und in Symonnes
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