Die Blutnacht: Roman (German Edition)
weiß nicht, dass Ihr ein Kind habt, aber das wird ihn nicht davon abhalten.«
Carla merkte, dass sie mit den Händen ihren Bauch hielt.
»Warum will er mich?«
»Grymonde wird Euch alle töten. Dann nimmt er alles mit. Die Tische, die Stühle, die Kleider, das Essen, die Kerzen und alles Gold.«
Estelle schien die Rede eines anderen zu zitieren.
»Warum will mich Grymonde? Woher weiß er von mir?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Estelle. »Aber Ihr?«
»Ich habe noch nie von ihm gehört. Grymonde ist der Mann, der dich aufs Dach geschickt hat?«
Estelle nickte.
»Wer ist er?«
»Grymonde ist der König der Diebe, der König von uns allen. Die ganze Stadt fürchtet sich vor ihm. Die Polizisten. Die gedungenen Mörder. Die Schweine aus dem Palast. Er ist mein Drache.«
Eine Wehe packte Carla. Sie schloss die Augen. Sie benutzte den Schmerz, um ihre Gedanken zu fokussieren. Estelle war vernarrt in diesen Verbrecher, diesen Grymonde, und überschätzte zweifellos seine Macht. Doch gewiss hatte er Macht. Carla legte die Hände wieder auf ihren Bauch und spürte ihr Kind. Es schlief noch. Es gab ihr Stärke. Der Krampf verging. Sie beruhigte sich: Dies waren noch nicht die Geburtswehen. Ihre Fruchtblase war noch nicht gesprungen. Alles war normal. Sie schaute Altan an.
»Können wir weglaufen?«
Estelle antwortete an seiner Statt. »Die Reichen denken, diese Häuser gehören ihnen. Aber heute Nacht nicht! Und die Straßen von Paris gehören uns. Wir können sie immer erwischen, wann wir wollen.«
Auch dies klang wieder wie ein Zitat aus einer Streitrede, vielleicht von Grymonde selbst.
Estelle fügte hinzu: »Wohin würdet Ihr rennen?«
»Dann müssen wir hier ausharren, bis die Polizei uns zu Hilfe kommt«, sagte Carla.
»Die Polizei wird nicht kommen. Die sind Feiglinge. Und Grymonde hat ihnen ein Fünftel der Beute versprochen, aber ganz sicher wird er ihnen nur ein Zehntel geben.«
Carla dachte an die vier Kinder, die nebenan schliefen. Sie hatte seit ihrer Ankunft jeden Tag mit ihnen musiziert. Sie hatte die vier liebgewonnen. Ihre Mutter Symonne war unnahbarer, immer noch in ihrem Verlust gefangen. Aber sie hatte Carla ihr Zuhause zur Verfügung gestellt, und Carla mochte sie. Trotz Estelles Beteuerung glaubte Carla nicht, dass dieser Grymonde sie töten wollte. Das ergab keinen Sinn für sie. Keine Logik, keine Leidenschaft, kein Gewinn konnte jemanden zu einem solchen Mord treiben. Selbst wenn nur ein Teil dessen stimmte, was Estelle gesagt hatte, musste ein Mann, ein Anführer wie Grymonde, vernunftbegabt oder zumindest geldgierig sein. Carla war ein gutes Lösegeld wert. Sie würde ihm entgegentreten und ihm das sagen.
Sie war schon früher gefährlichen Männern gegenübergetreten.
Einen der gefährlichsten Männer, denen sie je begegnet war, hatte sie geheiratet.
»Du sagst, Grymonde will mich. Also will er meinen Freunden, den anderen Leuten hier, nicht wehtun.«
»Natürlich will er das. Sie sind Ketzer. Heute Nacht werden alle Ketzer sterben, und sie werden alle zur Hölle fahren, jeder einzelne von ihnen, sogar die Kinder.«
»Was meinst du damit?«
»Das hier ist ein Hugenottenhaus. Alle Hugenotten in Paris müssen auf Befehl des Königs umgebracht werden.«
Carla hatte den Hass überall in der Stadt gespürt, aber dies schien ihr doch unvorstellbar. Vor kaum einer Woche hatte sie mit angesehen, wie der König seine Schwester mit Henri de Navarre verheiratet hatte. Der König und seine Mutter wollten Frieden und Versöhnung.
»Das hat dir Grymonde erzählt?«
»Ein Spion aus dem Palast hat es Grymonde erzählt. Ihr könnt Eure Freunde nicht retten.«
Carla wusste nicht, was sie glauben sollte.
»Zeit vergeht«, sagte Altan Savas. »Böse Männer kommen.«
Carla besiegte die Welle der Angst, die in ihr aufstieg. Sie spürte, dass Altan sie beobachtete. Sie konnte nicht kämpfen wie er, aber sie konnte seine Last erleichtern. Sie konnte das Kommando übernehmen. Sie wusste, was Mattias von ihr erwarten würde. Sie fragte sich, ob sie ihn je wiedersehen würde. Das war ihre erste Aufgabe: all die vielen Gedanken verbannen, die sie nur schwächen würden. Sie deutete auf Estelle.
»Lass das Mädchen gehen. Setze sie vor die Tür.«
Altan spitzte unter seinem Schnurrbart die Lippen. »Ich töte sie.«
»Sie kann Grymonde nichts erzählen, was er nicht ohnehin weiß.«
»Sie hat uns gesehen, das Haus. Umbringen. Oder hier behalten.«
KAPITEL 5
D AS R
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