Die Blutnacht: Roman (German Edition)
ATTENMÄDCHEN
Während Altan sie die Treppe hinunterzerrte, merkte Estelle sich alle Einzelheiten, um sie später Grymonde mitzuteilen. Sie wusste, dass man die Diebe nicht mehr lange aus dem Haus fernhalten konnte.
Das Haus hatte zu viele Fenster, und kein einziges war verbarrikadiert oder gar mit Läden gesichert. Die Reichen hängten bloß Stoffe vor die Fenster, als benötigten sie keinen Schutz. Im zweiten Stock änderte die Treppe die Richtung und führte nach vorn zum Eingangsflur bei der Haustür. Links befand sich im Erdgeschoss ein Raum voller Schreibtische und Kontobücher. Rechter Hand lag die Küche. Beide hatten schmalere, höher angesetzte Fenster, die verhindern sollten, dass Passanten von der Straße hereinschauen konnten. Durch die Küchentür sah Estelle auf einem Tisch einen Köcher mit Pfeilen und einen seltsamen ausländischen Bogen liegen.
Mondschein strömte durch die Fenster im Treppenhaus auf die Treppenabsätze. Hinten im Haus waren Blutlachen auf dem Boden. Das war wohl Gobbos Blut.
Altan packte sie beim Haar und hob sie hoch.
Estelle wand sich und trat ihm gegen die Oberschenkel. Sie wusste, dass er sie töten wollte, aber sie erinnerte sich an Madames Befehle und wusste auch, dass Altan gehorchen würde. Und sie wusste, dass Altan recht hatte: Er sollte sie töten. Estelle mochte Madame, die Dame aus dem Süden. Carla? Es tat ihr leid, dass Grymonde sie töten würde.
Estelle schrie auf, als Altan sie zu Boden stieß und ihr Gesicht in das Blut tauchte. Es war noch warm. Sie presste die Lippen zusammen, aber das Blut drang in ihre Nase ein, und sie musste atmen. Das Blut klebte ihr im Hals, und sie hustete und öffnete den Mund und atmete weiter. Sie konnte nicht mehr schreien.
Sie würde an Gobbos Blut ersticken.
Altan zerrte sie wieder hoch. Wildes Husten schüttelte sie. Sie spuckte Blut. Sie sah nichts, aber Altan hielt sie noch immer an den Händen fest, so dass sie sich die Augen nicht reiben konnte. Er schüttelte sie am Haar. Sie versuchte ihn anzuspucken. Er schlug ihr wieder ins Gesicht, aber nicht so fest wie Gobbo vorhin auf der Straße. Er zog die Hintertür auf.
»Schau«, sagte Altan.
Er drehte sie um, so dass sie die Außenseite der Tür anblicken konnte. An einem faustgroßen schmiedeeisernen Türklopfer war ein Seil festgebunden. Der Türklopfer hatte die Form einer Biene. Das andere Ende des Seils hatte jemand um Gobbos Hals geschlungen. Gobbo war tot, und er war nackt. Seine gebrochenen Beine waren in einem seltsamen Winkel ausgestreckt. Blut triefte aus einer klaffenden Wunde in seiner Leiste. Tote Augen glotzten den Mond an. Man hatte ihm einen Dolch in die Brust gerammt. Und ihm seine abgetrennten Genitalien in den Mund gestopft.
Estelle hatte Gobbo nie gemocht. Sie mochte nur Grymonde, ihren Drachen.
Sie schaute sich Gobbos blutüberströmte Leiche an und fühlte kein Mitleid. Sie fragte sich, ob Altan ihm die Eier abgeschnitten hatte, ehe er gestorben war.
Altan schob sie unsanft auf den Hinterhof. Er deutete auf Gobbo.
Mit seiner seltsamen Stimme sprach er: »Sag deinem Herrn: Komm und sehe!«
Estelle taumelte auf die Gassen jenseits des Hinterhofs zu. Sie bemerkte dort eine Bewegung. Die meisten anderen versteckten sich hier – das musste Altan wissen – und warteten darauf, dass sie ihnen die Tür öffnete. Stattdessen würden sie Gobbo vorfinden und sich fürchten. Vor dem verrückten Türken, der ihn an der Tür aufgeknüpft und ihm die Eier abgeschnitten hatte.
Grymonde würde sich nicht fürchten. Er wusste gar nicht, wie das ging.
Altan war bösartig wie eine in die Enge getriebene Ratte. Und genauso schlau. Aber er wusste nicht, dass die Anderen sich immer mehr vor Grymonde fürchten würden als vor irgendjemand anderem. Estelle fürchtete sich auch. Sie hatte ihren Drachen enttäuscht.
KAPITEL 6
D IE S ANFTMÜTIGEN
Tannhäuser erwachte, als er undeutliche Geräusche hörte, und sprang mit gezücktem Dolch auf. Ein scharfer Schmerz fuhr ihm in den Rücken, und er stöhnte und fluchte. Er packte sein Schwert. Die Luft war stickig. Nach der Dunkelheit seiner Träume reichte ihm der schwache Lichtschein, der von der Tür kam, zum Sehen aus.
Er ging in den Salon, wo die Kerzen beinahe ganz heruntergebrannt waren. Auf dem Tisch sah er eine Platte mit Brot und Fleisch und einen Krug mit Wein. Es war also jemand hereingekommen, während er schlief. Das Schloss in der Eingangstür knirschte, und er begriff, dass das Klirren von
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