Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Torhaus auf den Platz fiel.
Der Mond war hinter dem Palast untergegangen. Der Große Wagen wies ihm den Weg nach Norden. Im Osten strahlte hell der Jupiter. Tannhäuser wandte sich dem Quartier zu, dessen eng gedrängte Gebäude unmittelbar jenseits des Platzes aufragten. Man konnte Paris zu Fuß in weniger als einer Stunde durchqueren, hieß es, und doch behaupteten einige, alle Straßen und Gassen der Stadt, wenn man sie gerade zöge, würden bis Jerusalem reichen. Nirgends auf der Welt hatten Menschen ein irrwitzigeres Labyrinth geschaffen. Carla war irgendwo da draußen.
Er wusste nicht, was er ohne sie täte oder was aus ihm würde. Carla war sein Lebenszweck. Mit der Zeit war seine Weltsicht immer düsterer geworden. Carla hatte ihn mit ihrer Liebe, ihrer Musik und ihrer Hoffnung aus den Klauen der Verzweiflung gerettet. Was an ihm gut war, verdankte er ihr und seiner Liebe zu ihr und ihrer unerklärlichen Liebe zu ihm.
Carla war gut geschützt, redete er sich ein. Doch er ängstigte sich um das Kind in ihrem Bauch. Würde dieses Kind stark genug sein, oder würde es wenige Stunden nach dem ersten Atemzug sterben? So wie sein Bruder vor nicht ganz zwei Jahren, den er selbst auf den Namen Ignatius Bors getauft hatte, weil kein Priester in der Nähe gewesen war. Carla trauerte leise. Ihr Schweigen war schlimmer alsalle Klageschreie. Doch solche Erinnerungen schwächten seine Entschlossenheit. Er verbannte Carla aus seinen Gedanken.
Er war unterwegs in dieser fremden Stadt, umgeben von einem Heer von Übeltätern, die hier zu Hause waren. Doch er wollte sich durch die Straßen von Paris bewegen, als gehörten sie ihm. Er hatte Grund genug, diese stinkende Teufelsstadt zu hassen, aber ein kluger Wolf musste sein Jagdgebiet lieben lernen. Also beschloss er, Paris zu lieben. Ochsenkarren rumpelten über den Platz. Küchenjungen kamen ängstlich und niedergeschlagen herausgerannt, um sie zu entladen. Südlich, am Ufer der Seine, wühlten Schweine und Straßenköter im Unrat, den man an einem Pier aufgetürmt hatte. Im Wirrwarr der Straßen im Osten war überall Gewehrfeuer zu hören. Tannhäuser hörte Fenster zerklirren, Holz bersten, gebrüllte Befehle, Todesschreie. Hinter den Dächern spiegelte die Rosette in einer Kirchenfassade das letzte Mondlicht. Im Kirchturm läutete die Glocke immer weiter.
Tannhäuser wandte sich um. Die beiden Jungen drängten sich Schulter an Schulter. Grégoire griff sich mit Daumen und Zeigefinger an den Schritt. Tannhäuser befahl ihnen beiden, an die Mauer zu pinkeln. Und gesellte sich gleich zu ihnen. Dann zog er eine Fackel aus einem Bündel, das in einem Eimer mit Öl stak, und zündete sie an der Lampe des Torhauses an. Er wandte sich dem großen Schweizer zu, der Orlandu trug.
»Korporal, nennt mir Euren Namen.«
»Stefano, mein Herr.«
»Woher kommt Ihr, Stefano?«
»Aus Sion, mein Herr.«
»Im Valais? Das habe ich mir gleich gedacht, als ich Euch sah.«
Trotz seiner Last schien Stefano von Stolz geschwellt.
»Also, Stefano, bringt diesen jungen Mann zum Chirurgen des Königs, dann sollt Ihr mit Gold belohnt werden. Wenn wir Euren Kameraden begegnen sollten, lasst sie sofort wissen, dass wir in Angelegenheiten des Duc d’Anjou unterwegs sind, verstanden? Wenn sich uns jemand in den Weg stellt, Freund oder Feind, dann töte ich ihn.«
Tannhäuser gab dem Gardesoldaten Zeit, ihm in die Augen zu blicken und ihn als neuen Befehlshaber einzuschätzen.
Stefano schlug die Hacken zusammen und verneigte sich.
»Ja, mein Herr.«
Tannhäuser schüttelte ein wenig überschüssiges Öl von der Fackel. Flammen loderten auf, brennende Tröpfchen stoben in die Luft und verloschen zu seinen Füßen. Er hielt Juste die Fackel hin.
»Juste, du gehst mit Stefano und leuchtest ihm.«
Der Junge zuckte vor der Fackel zurück. Er duckte den Kopf zwischen die Schultern. Grégoire streckte die Hand nach der Fackel aus, doch Tannhäuser hielt ihn zurück. Er bot sie erneut Juste an.
»Halte die Flamme von dir weg, dann verbrennst du dich nicht.«
Juste schüttelte den Kopf. Panik hatte ihn gepackt. Er schlug die Hände vors Gesicht.
»Nein. Ich will nicht gehen. Ich will nicht. Ich kann nicht.«
Tannhäuser gab ihm eine Ohrfeige. Es war kein harter Schlag, aber Juste taumelte doch zur Seite, und Grégoire sprang zu ihm hin, um ihn zu stützen. Justes Lippen bebten. Seine Augen schwammen in Tränen. Er bedeckte das Gesicht mit dem Arm und versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken.
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