Die Blutnacht: Roman (German Edition)
küssten einander noch zum Abschied, während andere auf den blutgetränkten Steinen niederknieten und beteten. Wutschreie und Lachen schallten durch die Nacht. Der König wurde verflucht, und Gott wurde angefleht.
Auf einem Balkon im Pavillon du Roi sah Tannhäuser eine Gruppe an einer Balustrade stehen. So reglos wie die Statuen ringsum beobachteten sie die Katastrophe, die sich vor ihnen abspielte. König Charles und sein Bruder Anjou. Catherine de Medici, ihre Mutter.Albert de Gondi, Comte de Retz. Andere hohe und mächtige Staatsmänner.
Tannhäuser wandte sich um, als er jemanden schluchzen hörte. Es war Grégoire. All die schlechte Behandlung und die Gefahren, die er an diesem Tag erduldet hatte, hatten dem Jungen keinen Klagelaut entlockt, doch jetzt waren seine Wangen nass. Tannhäuser konnte es ihm nicht verdenken. Er war noch ein Kind. Der blindwütige Schrecken dieses Blutbades hatte seine Seele bestürmt. Tannhäuser zog ihn von dem Tor weg.
»Wisch dir das Gesicht ab, Junge. Tränen helfen uns jetzt nicht weiter, auch Mitleid nicht, weder für uns noch für andere.«
Grégoire wischte sich das Gesicht am Ärmel seines Leinenhemdes ab.
»Großer Gott«, rief Arnauld.
»Sie sind gekommen, um einen Krieg zu provozieren. Jetzt haben sie ihren Krieg.«
»Das ist kein Krieg. Das ist ein Massaker.«
»Und doch sind Massaker das älteste Werkzeug des Krieges. Und diese Waffe bleibt immer scharf.«
Arnauld schrak zurück. »Das ist der Rat der Verzweiflung.«
Tannhäuser spürte, wie Grégoire ihn am Ärmel zupfte. Der Junge hatte sich wieder gefasst und deutete auf Orlandus Kopf. Tannhäuser sah an einer Wand eine Bank. Er legte Orlandu vorsichtig auf das Holz. Arnauld brachte eine Fackel. Orlandus Lippen und Gesicht hatten eine violette Färbung angenommen. Mit Mühe konnten sie sehen, wie sich seine Brust hob und senkte, sein Gesicht wurde allmählich wieder blasser.
»Er muss sich Herz und Lungen gequetscht haben. Wie weit ist es bis zur Straße?«
»Wenn man uns nicht aufhält, ein oder zwei Minuten«, sagte Arnauld.
»Das Tor wird gut bewacht sein.«
»Von Anjous Schweizer Garden, die mich gut kennen.«
»Könnt Ihr mir ein Pferd besorgen?«
»Das würde uns mehr Zeit kosten, als Ihr zu Fuß brauchen würdet.«
Orlandu sah ein wenig besser aus.
Tannhäuser lockerte die Schultern und hob ihn sich wieder auf den Rücken. Er folgte Arnauld auf den Fersen.
Sie gingen nach Osten, fort vom Innenhof, dann nach Norden durch ein Labyrinth von Korridoren. Sie kamen an einer weiteren Leiche vorüber. Und noch einer. Arnauld zuckte zusammen, als sie an einer Statue in einer Nische vorübergingen. Seine Hand flog zum Schwert.
»Im Namen des Königs, zeigt Euch!«
Tannhäuser machte einen Schritt zurück, die Hand am Dolch.
Eine schmale Gestalt tauchte aus dem Versteck auf. Der Junge stand bleich vor Furcht im Fackelschein. Als er Tannhäuser sah, wurde seine Angst noch größer. Wenn noch ein Funken Hoffnung in seiner Brust gewesen war, dann verlosch er bei diesem Anblick. Es war der blonde Junge, Juste, der einzige Überlebende seiner Familie. Er trug das Schwarz der Hugenotten und war nicht bewaffnet.
»Er heißt Juste und ist harmlos«, sagte Tannhäuser. »Lasst uns gehen.«
»Wenn wir ihn hierlassen, finden sie ihn und ermorden ihn«, sagte Arnauld.
Tannhäuser ging weiter den Korridor entlang. Einen Augenblick später holte Arnauld ihn mit der Fackel wieder ein. Er hatte Juste am Arm hinter sich hergezogen. Sie bogen um eine andere Ecke, und Tannhäuser sah in dreißig Schritten Entfernung ein gut beleuchtetes Wachhaus. Er schaute zu Arnauld.
»In diesem Blutbad könnt Ihr den Jungen nicht am Leben halten«, sagte er zu Arnauld.
»Nein, das werde ich auch nicht, denn Ihr nehmt ihn mit. Ihr werdet ihn am Leben halten.«
»Ihr scherzt wohl.«
Arnauld blieb stehen. Tannhäuser wandte sich um. Arnaulds Augen funkelten.
»Der Junge will bestimmt nicht mit mir gehen«, erklärte Tannhäuser barsch. »Ich habe drei seiner Brüder getötet.«
»Umso mehr Grund, sich auf seine Seite zu schlagen, aber ich kenne Euch nun zu gut. Ihr seid ein skrupelloser, gewalttätiger Mann. Vielleicht bin ich schlimmer, denn dies ist meine Welt, nicht Eure, und ich habe sie mit zu dem gemacht, was sie ist. Aber Tannhäuser,um der Liebe Gottes willen müssen wir in dieser schändlichsten aller Nächte wenigstens eine einzige anständige Tat vollbringen.«
Tannhäuser schaute zu Juste. Der Junge
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