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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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Tannhäuser erinnerte sich an diese Gefühle. Angst, Verwirrung, Erniedrigung. Er nahm Juste beim Handgelenk und zog ihm den Arm vom Gesicht fort. Juste hielt die Augen gesenkt. Tannhäuser hob Justes Kinn hoch und zwang den Jungen, ihn anzuschauen.
    »Deine Kameraden sind verraten worden und werden abgeschlachtet. Der König ist ein böser Feind. Du bist in einer Welt der Lügen verloren. Und kein Gott wird dir helfen, deiner nicht und auch kein anderer.«
    Juste starrte ihn an. Seine Augen glänzten vor Tränen, während sie hin und her huschten.
    »Hörst du mir zu, Juste?«
    »Ja.«
    »Du bist allein.«
    »Ja.«
    »Deine Brüder sind tot und den Hunden vorgeworfen worden.«
    Juste schluchzte auf.
    »Ich habe sie getötet. Ich habe die Söhne deiner Mutter getötet. Und du stehst in meiner Macht.«
    »Ja.«
    »Es ist Nacht, endlose Nacht.«
    »Ja.«
    »Und in dieser finsteren und blutigen Welt hast du keinen Freund.«
    »Ja.«
    »Darin zumindest irrst du dich. Denn ich bin dein Freund.«
    Nun liefen Juste die Tränen über die Wangen. Schluchzer schüttelten ihn. Grégoire, der ihn immer noch hielt, tätschelte ihn zwischen den Schultern, als tröstete er ein krankes Pferd.
    »Ich bin dein Freund«, wiederholte Tannhäuser. »Und du könntest es schlimmer getroffen haben. Außerdem ist Stefano mein Freund, genauso wie Grégoire, und so sind auch die deine Freunde. Du bist nicht allein, sondern von Freunden umringt. Stimmst du mir zu?«
    »Ja.«
    »Guter Junge. Wisch dir das Gesicht ab.«
    Dann drückte er Juste den Griff der Fackel in die Hand. Der schloss seine Finger darum und hielt sie fest. Tannhäuser nahm auch Justes andere Hand und schloss sie um den Griff.
    »Die Fackel würde mich für die Finsternis blind machen, und die Finsternis muss ich beherrschen. Deswegen gehe ich vor. Ihr werdet mich nicht sehen, aber ich bin in der Nähe.«
    Er zog mit der Rechten den Dolch.
    Grégoire sagte: »Da ist der Käfig.«
    Er rannte auf einen Haufen Unrat zu. Tannhäuser holte noch einmal tief Luft. Er bedeutete Stefano mit einer Geste, noch zu warten, und ging hinter Grégoire her. Juste trottete hinterdrein.
    »Grégoire.«
    Der Käfig lag umgekippt am Kai. Grégoire stand da und starrte auf die Affen. Sie waren tot. Ihre winzigen Körper lagen schlaff da.
    »Sie sind von so weit her über den Ozean gekommen. Und sie hätten nur ein bisschen Wasser gebraucht.«
    »Wir müssen gehen.« Tannhäuser drückte dem Jungen die Schulter.
    »Schaut nur! Sie haben versucht, sich durch die Latten zu nagen. Um frei zu kommen.«
    »Wir haben versucht, ihnen zu helfen.«
    Inmitten des Unrats entdeckte Tannhäuser einen Hund und ein Schwein, die sich unter all dem Abfall um einen Haufen nackter menschlicher Leichen stritten, die schon so steif waren, dass sie einige Stunden tot sein mochten. Tannhäuser zog die beiden Jungen fort, ehe Juste die Toten erkennen konnte.
    Tannhäuser überquerte mit seinem Gefolge den Platz. Stefano führte sie am Fluss entlang, dann nach Osten, an einigen Kais vorüber und eine breite Treppe hinunter zum Flussufer. Dann bogen sie nach Norden in die Straße ein, in die, wenn sich Tannhäuser recht erinnerte, der Herzog von Guise seine Mördertruppe geführt hatte. Ein Hellebardier stand Wache. Er schaute auf das Kreuz an Tannhäusers Brust und auf Stefano, der als Nachhut folgte, und hielt sie nicht auf.
    Tannhäuser ging auf die andere Straßenseite und hielt sich nahe bei den Gebäuden. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Da die Fackel zehn Schritte hinter ihm folgte, würde jeder, der ihnen entgegen kam, nur die Flammen wahrnehmen.
    Das Quartier war ein Flickenteppich aus Kneipen, Gasthäusern und Werkstätten, in denen alle Gewerbe ausgeübt wurden, die für den Palast benötigt wurden. Ab und zu wehte ein Hauch Kerzenwachs oder Terpentin herüber. Tannhäuser nahm an, dass hinter den dunklen Fenstern und verriegelten Türen Familien dicht zusammengedrängt saßen und beteten, dass es Tag würde. Auf manche Türen hatte man ein grobes weißes Kreuz gemalt. Schloss und Riegel waren jedoch kein Hindernis gewesen, denn man hatte die Scharniere zerschmettert, und alle, die sich dahinter verbargen, niedergemetzelt. Barfüßige Leichen lagen im Unrat, die Nachthemden mit feuchtem Blut befleckt.
    Ein Gebäude ragte wie ein Keil auf und zerschnitt die Straße. Der breitere Teil zweigte nach Osten ab, der schmalere nach Norden. Tannhäuser schritt nach Osten. Mehr zerschmetterte Türen, mehr

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