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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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Straßenseite sah er ein herrliches Haus mit Unmengen von Fenstern, errichtet im Glauben an das Licht der Vernunft, im Vertrauen auf ein neues Zeitalter, eine neue Denkart, ein neues Leben. Doch die Fenster waren eingeschlagen, die Tür stand sperrangelweit offen. An einem Fensterkreuz im Obergeschoss hing eine Leiche, und Blutlachen von der Farbe von Auberginen breiteten sich in phantastischen Mustern auf den Pflastersteinen aus. Er brauchte die Bienen nicht mehr zu sehen.
    Tannhäuser zügelte Clementine und lenkte sie langsam an diesem Schlachthaus vorüber, in dem er gehofft hatte, seine Frau anzutreffen, und wo er, das glaubte er schon zu wissen, nur noch ihre Leiche finden würde.
    Er bemerkte Schleifspuren in den Blutlachen. Der halb verkohlte Kadaver eines verstümmelten Hundes lag in der Gosse. Ein nackter toter Mann war hinter der Schwelle zu sehen.
    Im zweiten Stock sah er eine tote Frau, nackt und mit einer goldenen Kordel an einem Knöchel am Fensterkreuz aufgehängt. Jemand, der nicht genug Übung oder Entschlossenheit besaß, hatte ihr die Gurgel durchgeschnitten. Es waren viele, zumeist flache Schnitte, von denen manche ihren Kiefer getroffen hatte, als sie sich wehrte. Man hatte ihr eine Brust abgehackt und sich auch an der anderen versucht, aber aufgegeben. Blut war ihr über den ganzen Kopf geronnen und hatte das lange Haar wie geschmolzenes Wachs überzogen. Sie war wohl in den mittleren Jahren, vielleicht vierzig Jahre alt. Und seit weniger als einer Stunde tot. Soweit er es in diesem Zustandsehen konnte, war Symonne d’Aubray, wenn sie es denn war, nicht die hübscheste Frau gewesen. Er konnte sich diesen unfreundlichen Gedanken nicht verkneifen.
    Carla war schön.
    Der Kontrast wäre denen, die dies angerichtet hatten, nicht entgangen.
    Beinahe alle Fenster auf den drei Stockwerken waren eingeschlagen, doch nur wenige Scherben waren auf die Straße gefallen. Allein mit Schleudern oder Hakenbüchsen konnte man so hoch treffen und so viel Schaden anrichten. Aus dem Haus war kein Laut zu hören. Tannhäuser schaute die Fenster der Nachbarhäuser und der Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite an. Sie wirkten so verlassen, als hätte die Pest sie allen Lebens beraubt.
    Er ritt durch eine Seitengasse auf den Hof und in den Garten hinter dem Haus. Auch hier waren alle Fenster nach innen eingeschlagen. Der einzige Grund für so viele Scherben – für die man eine Unmenge Angreifer brauchte – war, dass man mit dem so entstandenen Chaos die Verteidiger ablenken wollte, während ein oder zwei Eindringlinge sich Zugang zum Haus verschafften. Tatsächlich: Ein Fenster im ersten Stock war nicht nur eingeschlagen, sondern stand weit offen. Auch die Hintertür war sperrangelweit auf, aber nur wenig beschädigt. Es hatte jemand von innen aufgemacht.
    Die untere Hälfte der Tür war mit geronnenem Blut bedeckt. Eine Blutlache gerann auf den Treppenstufen draußen. Die Flecke verwunderten ihn.
    Tannhäuser stieg ab und ließ Clementine Gras und Weißkohl fressen. Die fest getrampelte Erde des Gemüsebeetes war von Wagenspuren durchfurcht. Keine Hufabdrücke. Ein Strohsack auf dem Boden. Altans Lager, vermutete er.
    Tannhäuser zog den Dolch und näherte sich der Hintertür.
    Er trat ein, blieb stehen und lauschte. Er hörte nichts. Jemand hatte gleich bei der Tür einige Dielen aus dem Fußboden gerissen. Sie waren nirgends mehr zu sehen. Links führte eine Tür in den Keller. Rechts ging es in eine große Küche, welche die ganze Tiefe des Hauses einnahm. Glasscherben auf dem Boden. Vorratskammer, Schränke und Borde geplündert. Nicht einmal ein Holzlöffelwar mehr zu sehen. Ein wenig Mehl war verschüttet worden. Die Diebe befanden Mehl und Holzlöffel des Stehlens wert.
    Er dachte darüber nach. Das war einfacher, als über Carla nachzudenken. Er ging durch den Korridor, wo unzählige Menschen, viele barfuß, durch die Blutlachen getrampelt waren. Das Blut klebte an den Sohlen seiner Stiefel. Wie das an der Hintertür vergossene war es nun schon schwarz und zäh wie warmer Teer. Im vorderen Bereich des Eingangsflurs war sehr viel mehr Blut, dickflüssig wie kalte Soße, vielleicht erst vor einer Stunde vergossen. Scherben. Scherben. Nackte Füße, die sich nicht davor scheuten. Er trat auf eine Gewehrkugel aus Blei. Er hob sie auf und fand sie durch den Aufprall verformt, aber ohne jede Spur von Pulver. Schleudern. Er hatte ihnen bei den Kornaufständen von Adrianopolis gegenübergestanden. Sie

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