Die Blutnacht: Roman (German Edition)
viele verloren. Er verspürte kein Selbstmitleid. Er brauchte kein Mitleid und verdiente es auch nicht, und es würde ihm nichts nutzen. Denn wem nutzte es je? Er würde nicht leiden. Mit Willenskraft würde er das Leiden in Schach halten, denn er fand dessen sinnlose Allgegenwart inzwischen widerlich. Carla war tot, und er war frei und wollte sich frei fühlen. Frei, sich mit dem Teufel zu verbünden und seine Pavane zu tanzen. Frei, alle Zärtlichkeit, Hoffnung und Freude zu verwerfen, und dazu alle sonstigen Schwachheiten. Frei, durch die Wüsten der Welt und seiner Seele zu wandern. Frei, endlich das zu werden, wozu ihn das Schicksal immer wieder eingeladen hatte: ein Geschöpf, das die schmerzliche Bürde abgeworfen hatte, ein Mensch sein zu müssen.
Die Treppe war immer noch da.
Und was er oben finden würde, auch.
Er regte sich nicht.
»Meister?«
Tannhäuser stand vorgelehnt da, die Hände auf die Knie gestützt, und keuchte. Er schaute auf die Straße und sah Grégoire und Juste. Sie machten sich Sorgen. Um ihn! Er lachte höhnisch. Die Kerzenstummel flackerten.
»Meister?« Es war deutlich, dass sie um seinen Verstand fürchteten.
»Clementine ist hinten. Gebt ihr Wasser. Juste, komm her.«
Juste blieb am Rand der dunkelrot gerinnenden Lache stehen.
Tannhäuser wies ihn mit dem Daumen. »Geh durch die Hintertür.«
Juste rannte fort.
Musste er den Jungen die Treppe hinaufschicken?
Konnte er nicht selbst gehen?
Das konnte er. Aber er musste sich nicht mehr beweisen, dass er unbeschreiblichen Schrecken ansehen konnte. Es waren genug Bilder toter Frauen in sein Gedächtnis eingebrannt. Wenn er Carla tot daliegen sah, fürchtete er, den Verstand zu verlieren. Er war in Mordlaune. Sie hatten seine Frau umgebracht. Sein ungeborenes Kind. Dieser Gedanke beschwor eine wilde Flut von Bildern und Geräuschen herauf: ihre Stimme im Morgengrauen, ihr Gesicht in entfesselter Leidenschaft, ihr Lachen über seine Dummheiten. Ihm zog sich jeder Muskel im Leib zusammen. Alles in ihm schrie nach Zerstörung, Chaos, Gewalt und Auslöschung. Er würde sich vom zähen Dreck seiner Menschlichkeit reinigen.
»Ich werde durch Ströme von Blut waten.«
»Ich bringe Euch Wasser, Sire.«
Tannhäuser wandte sich um. Er nickte und nahm den Becher. Er trank.
Er sollte allein nach oben gehen. Dann entschied er sich, das nicht zu tun.
»Juste, ich brauche deine Hilfe. Ich möchte, dass du nach oben gehst und dich umschaust und mir sagst, was du da siehst. Alles. Es wird scheußlich sein. Kannst du das machen?«
Juste musterte ihn. »Ja, Sire.«
»Es werden Leichen da liegen, aber du hast ja schon genug gesehen. Und für dich sind es Fremde.«
»Ihr wollt Eure Frau nicht als Tote sehen.«
»Nein. Und nicht nur tot, sondern …«
»Ich verstehe. Ich habe Hunde gesehen, die meine toten Brüder fraßen.«
Sie schauten einander an.
»Danke«, sagte Tannhäuser.
Juste rannte über knirschendes Glas die Treppe hinauf. Er blieb stehen.
»Ein Mann liegt hier auf dem Treppenabsatz, mit vielen Messerstichen. Er ist alt, älter als Ihr. Ein Diener oder Gärtner, denke ich. Er hat raue Hände.«
»Guter Junge. Weiter.«
Tannhäuser wartete. Sein Gewissen plagte ihn, Juste zu folgen. Seine Eingeweide waren in furchtsamem Aufruhr. Seine Vernunft riet ihm zur Geduld.
»Ich bin im Wohnzimmer. Tote Jungen, zwei tote Jungen, mit vielen Messerstichen. Ein Mädchen, mit vielen, vielen Messerstichen. Mein Gott! Alle tot!«
Einen Augenblick lang sprach Juste nicht.
»Am Fenster ist eine Frau. Ihr Knöchel ist mit einer goldenen Kordel ans Fensterkreuz gebunden. Sie ist ziemlich alt, glaube ich, aber es ist schwer zu sagen, sie hat überall Messerstiche und ihr …«
»Ich habe sie von draußen gesehen. Madame d’Aubray, nehme ich an. Sonst noch jemand?«
»Nein. Drei tote Kinder, der Diener, die hängende Frau. Es ist sehr leer hier. Keine Teppiche, keine Bilder, keine Möbel. Ganz leer.«
»Gut. Geh ins nächste Zimmer.«
»Das ist ein Schlafzimmer.«
Tannhäuser wartete. Er bemühte sich, seine Übelkeit zu unterdrücken, indem er eine Logik in diesen Ereignissen zu finden versuchte. Die Diebe waren gekommen, um zu plündern, um reiche Hugenotten zu töten. Warum nicht? Er hatte vor kaum einer Stunde selbst einen getötet und beraubt. Aber warum in diesem Haus? Warum sie ausgerechnet hier so entschlossen nach Beute suchten, erschloss sich ihm nicht. Diebe wollten leichte Arbeit haben, keine Schlachten; ein unbewachtes
Weitere Kostenlose Bücher