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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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halbnackt. Seine Einsamkeit berührte Carla. Sie war sicher, dass Estelle sie anstarrte, und zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Cockaigne hatte sie Angst.
    »Seht nur, ich glaube, da ist Estelle.«
    Grymonde drehte sich um. »Ich wusste, dass sie kommen würde.«
    Von all den Schrecken des Morgens hatte Estelles Demütigung und Verbannung Carla am meisten mitgenommen. Sie sagte: »Ihr habt sie grausam behandelt.«
    »In der Hitze des Gefechts. Ich musste ein Exempel statuieren. Und, wenn ich mich recht besinne, wurde ich dazu provoziert.«
    Carla ärgerte sich zu sehr über sein spöttisches Lächeln, um ihm zu widersprechen.
    »Und ich wollte nicht, dass sie …«, er zuckte die Achseln, »… sehen würde, was wir dann gemacht haben.«
    »Ich bin erstaunt, dass Ihr solche Skrupel habt.«
    Carla wandte sich wieder zum Hof. Estelle war fort.
    »Ruft sie zurück«, sagte Carla.
    »Sie hätte ohnehin nicht dabei sein sollen. Joco hat sie mitgebracht.«
    »Schickt jemanden hinter ihr her.«
    »Sie kommt zurück, wenn sie das gebratene Schwein riecht. Sie weiß, dass ich sie liebe.«
    »Das glaube ich nicht.«
    »Sie kann ein gefährliches kleines Ding sein. Und sie mag Euch nicht, das habe ich an ihrem Blick gesehen.«
    »Ich frage nicht um meinetwillen. Das Mädchen zieht die Ratten den Menschen vor. So wenig weiß sie von Eurer Zuneigung.«
    Grymonde war wütend, konnte aber nicht widersprechen.
    »Niemand hier kann La Rossa fangen, wenn sie es nicht will.«
    Carla war beharrlich.
    »In ihrem Herzen will sie genau das.«
    »Papin!«
    Carla zuckte vor dem Brüllen zurück. Papin fiel beinahe vom Karren.
    »La Rossa lungert irgendwo in der Gasse herum. Schick jemanden, der sie holt.«
    »Estelle?«, fragte Papin. »Wozu?«
    »Sag ihr, wir vergeben ihr! Sag ihr, wir lieben sie!«
    »Wirklich?«
    »Schick jemanden, dem sie kein Messer in den Leib rammen will, wenn es so jemanden gibt.«
    Grymonde verneigte sich nicht ohne Spott vor Carla.
    »Danke«, sagte sie.
    »Es ist mir ein Vergnügen.«
    Aus dem Haus ertönte die raue Stimme einer Frau: »Komm endlich her und gib mir einen Kuss, du dreckiger Teufel.«
    Carla schaute zur Tür herein, sah aber im Dämmerschein nur unordentlich aufgetürmte Haufen.
    Wilder Jubel erhob sich, anscheinend weil man ein Fass Wein gefunden hatte.
    »Hölle und Teufel, was hast du wieder angestellt? Außer Übeltaten?«
    Die Stimme aus dem Inneren des Hauses klang gewöhnlich, ungehobelt und laut.
    »Das wüsstest du wohl zu gern, Mam«, erwiderte Grymonde in gleichem Ton.
    »Wenn diese alte Frau erst rauskommen muss, dann kannst du sie auf den Hintern küssen.«
    Grymonde strahlte vor Stolz.
    »Und wen hast du da mitgebracht? Hat die keine besseren Manieren?«
    Carla holte tief Luft, strich ihr beflecktes Kleid glatt und wappnete sich.
    »Und jetzt, wenn Ihr erlaubt«, sagte Grymonde, »stelle ich Euch meine Mutter vor.«



KAPITEL 12

A M S CHEITELPUNKT
    Die nächstgelegene Kirche war uralt und wirkte sehr vernachlässigt. Tannhäuser war auf dem Weg von der Place de Grève hier vorübergegangen. Dahinter konnte er den Turm der Priorei von Sainte-Croix sehen. Doch ihm stand nicht der Sinn danach, mit Mönchen zu verhandeln.
    Die Kirche war klein, ein schlichtes Rechteck ohne Querschiff oder Kapellen. Bis auf zwei alte betende Frauen war sie leer. Zwei morsche Holzgeländer zu beiden Seiten des Kirchenschiffs trennten die Vorhalle von den Kirchenbänken ab. Links in der Vorhalle befand sich ein steinernes Taufbecken, dessen Anblick Tannhäuser Übelkeit verursachte. Es gab nur einen anderen Ausgang, eine Tür in der Südwand des Kirchenschiffs, kurz vor der erhöhten Kanzel, wo an einer Kette ein rot leuchtendes ewiges Licht hing. Die Tür war nur angelehnt.
    Tannhäuser ging einen Flur entlang, an der verschlossenen Sakristei vorüber und dann durch eine zweite, auch nur angelehnte Tür in das kleine, angrenzende Haus. Im Wohnzimmer traf er auf einen Priester, der Wein zum Frühstück trank.
    Der Priester trug eine Brille. Auf dem Tisch vor ihm lagen Papierblätter, Feder und Tinte. Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein und war schon kahlköpfig. Seine rote Gesichtsfarbe ließ auf ein reizbares Temperament schließen. Er war groß und hager, als hätte ihm das Leben außer Wein wenig Angenehmes geboten. Er hatte nicht bemerkt, dass Tannhäuser eingetreten war.
    »Mattias Tannhäuser, Magistralritter des Ordens vom heiligen Johannes dem Täufer von Jerusalem.«
    Der Priester reagierte

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