Die Blutnacht: Roman (German Edition)
herausgefunden.
Sie war nun in den Höfen.
Sie war vielleicht die Erste ihres Standes, die je hierhergekommen war.
Die Höfe, das war jenes sagenhafte Land, das man nur aus den Mythen kannte, die es gegen den Rest der Welt abschirmten. Mythen von Verderbtheit und Gewalt, von kranken und wilden Kindern, von grenzenloser Zügellosigkeit. Es galt als ein Ort, wo jemand wegen der Feder am Hut ermordet werden konnte. Reiche Pariser Bürger brüsteten sich gern mit diesen Räuberhöhlen, als könnte deren traurige Berühmtheit irgendwie ihren eigenen Ruf verbessern, obwohl sie es nie gewagt hätten, auch nur die Randbezirke zu erkunden.
Die Häuser waren ohne ersichtliche Logik erbaut, nur um einen Platz zu schaffen, in dem man vor den Elementen Schutz finden konnte. Jedes Stockwerk schien neuer als das darunter, alle waren baufällig und nur deswegen nicht eingestürzt, weil sie an den Nebenhäusern lehnten. Manche waren jämmerliche Behausungen aus Lehm und Gras. Und alles stank nach den Menschen, die hier dicht gedrängt wie in einem Bienenstock lebten.
Bigot und Papin zogen den Karren wieder, während Grymonde vorausging und Horden neugieriger Kinder verscheuchte. Sie stiegen einen Hügel hinauf. Hier und da zweigten Gassen auf Hinterhöfe ab, und Männer kamen heraus, standen mit in die Hüften gestemmten Fäusten da und schauten zu, wie die Karren vorüberrollten. Ihre Augen ruhten auf der Beute und ein wenig ungläubig auf Carla, und die bemerkte, wie Grymonde die Schultern straffte, als drohte ein Streit. Er nickte diesem und jenem knapp zu, grüßte einige der finstersten Burschen mit Namen, die mit wenig Begeisterung zurückgrüßten. Schließlich waren sie an allen ohne größere Schwierigkeiten vorübergezogen.
Nun ging es den Hügel wieder hinunter.
Sie schienen bereits in den tiefsten Tiefen des Labyrinths angekommen zu sein, als sie in einen anderen Hof einbogen und Grymonde stehenblieb.
»Willkommen in Cockaigne.«
Im Allgemeinen ähnelte dieser Hof allen anderen, mit Ausnahme eines seltsamen Hauses, das in die entfernte Ecke gequetscht stand. Die anderen Häuser rings um den Hof waren drei oder vier Stockwerke hoch, aber dieses hatte sieben äußerst merkwürdige Stockwerke. Die oberen drei, wenn man sie denn so bezeichnen konnte, waren Jahrhunderte jünger als die unteren und unvollendet. Man hatte die Wände und Rahmen aus unterschiedlich langen Balken wie zufällig zusammengezimmert. Die Fenster hatten kein Glas, waren von unregelmäßiger Größe und von Verschiebungen im Bau zu schrägen Quadraten verzerrt. Der gesamte neue Teil hatte sich verdreht und hing in furchterregender Schieflage. Er wurde nur von einem Kabel am Einsturz gehindert, das man um die Mitte gelegt und irgendwo gesichert hatte, und von einem Balken, der aus einem Schiffsmasten geschnitten und in spitzem Winkel unter das angrenzende Dach geklemmt war. Es sah aus, als könnte jede Sommerbrise diese Konstruktion zum Einsturz bringen. Unter anderen Umständen hätte Carla gelacht.
»Am Turm ist noch ein bisschen was zu tun«, meinte Grymonde nicht ohne Stolz. »Aber da oben werdet Ihr nicht wohnen.« Er klappte das hintere Brett des Karrens herunter. »Lasst mich Euch herunterhelfen.«
»Gern. Ich habe mich gefühlt wie eine Verbrecherin auf dem Weg zum Schafott.«
»Vielleicht lass ich Euch das nächste Mal zu Fuß gehen.«
»Das hätte ich wirklich vorgezogen.«
»Warum habt Ihr das nicht gesagt?«
»Ihr hattet gerade vier Erwachsene und drei Kinder ermordet. Ich war Eure Gefangene.«
»Das hat Euch nicht daran gehindert, mir zu widersprechen, wann immer Ihr wolltet.«
Er packte sie mit seinen Riesenhänden unter den Achseln und hob sie herunter.
Einen Augenblick berührte ihr Bauch den seinen. Ihre Gesichter waren sich nah. Sie roch wieder seinen seltsamen Duft. Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück.
»Die Matratze hinzulegen war sehr fürsorglich von Euch. Ihrwart …« Sie hielt inne, denn die Aussage schien absurd, wenn auch wahr. »Ihr wart sehr freundlich.«
Grymonde grunzte. »Keine Ursache. Also, ich kann hier nicht länger mit einer Frau herumstreiten. Ihr entschuldigt mich.«
Leute waren aus den Häusern gekommen und scharten sich aufgeregt um die Karren. Sie waren hager und schmutzig, zerlumpt und gezeichnet, die meisten standen barfuß im Dreck, und doch strahlten sie eine ungeheure Vitalität aus. Carla spürte, wie diese Lebendigkeit auch durch ihre Adern strömte. Die unzähligen Kinder
Weitere Kostenlose Bücher