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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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Reichtümern. Denn auch sie glaubt, dass es Mein und Dein nicht gibt.«
    »Darf ich meine Blockflöte behalten?«, fragte Antoinette.
    »Nimm sie«, sagte Grymonde, »ehe es jemand anders tut. Aber wenn sie jemand nimmt, weine nicht.«
    Der Triumph der Diebe schien beinahe vorüber, und schon bald würde Carla ihre Hebamme kennenlernen. Sie wollte dann nicht so abgerissen aussehen und mit leeren Händen kommen. Sie wollte ihr ein Zeichen ihres Respekts übergeben.
    »Grymonde, lasst mich in den Koffer da schauen.«
    Grymonde streckte seinen Arm zwischen die Leute, die bereits das Gepäck plünderten, und scheuchte einige fort. Carla wandte sich um, lehnte sich an die Wagenwand, als die nächste Wehe einsetzte.
    Sie spürte, dass wieder Flüssigkeit über ihre Schenkel rann. Niemand bemerkte ihren Schmerz, weil alle mit der Beute beschäftigt waren. Der Schmerz befreite etwas in ihr, und sie wurde von einerLiebe überwältigt, die sie kaum weniger heftig packte. Sie schenkte die Liebe ihrem Kind und hoffte, dass nur sie den Schmerz verspürte. Endlich verging die Wehe, aber Carla war erschöpft, atemlos, der Ohnmacht nah. Sie versuchte sich zu sammeln. Sie war schockiert, dass sie schon so früh an die Grenzen ihrer Kräfte stieß. Sie hatte geglaubt, gut vorbereitet zu sein. Sie hatte schon zwei Geburten hinter sich. Aber ihr Körper sagte ihr, dass es diesmal schwieriger sein würde. Sie war älter. Sie war schwächer. Umso mehr Grund, sich nur auf die Geburt zu konzentrieren.
    Sie richtete sich auf.
    »Hugon«, sagte Grymonde, »trag das für Carla.«
    Ein hagerer, zarter Junge, der nicht am Überfall teilgenommen hatte, kam herbei gerannt. Wie viele andere Jungen hatte er einen nackten Oberkörper, und seine Haut hatte die Farbe von Perlmutt, seine Muskeln waren stark. Auf der Brust hatte er zwei Narben von Messerstichen. Zart war vielleicht nicht das richtige Wort, aber vielleicht war es ihr in den Kopf gekommen, weil er ihr wirklich schön vorkam.
    Hugon verneigte sich vor Carla, die Augen auf sie gerichtet, und sie dankte ihm für seine Höflichkeit. Er nahm Grymonde die Gambe und den Koffer ab und schaute sie erneut an.
    Die anderen waren nur neugierig, aber in Hugons Augen sah sie eine Art Flehen, als wäre er hier gestrandet und erhoffte von ihr Hilfe.
    Grymonde bot ihr den Arm.
    »Kommt, ich lade Euch in mein Zuhause ein. Es gibt in der ganzen Ville keinen sichereren Ort.«
    Carla legte eine Hand auf Grymondes Unterarm, stützte sich aber nicht ab. Ihre Stärke war zurückgekehrt. Sie hatte schon vor Wochen jeden Versuch aufgegeben, auch nur annähernd elegant zu schreiten, aber als sie auf das wahnwitzige Haus zugingen, hielt sie das Kinn hochgereckt.
    Hugon folgte ihnen.
    Die Tür stand offen. Zu ihrer Überraschung wehte ihnen ein Hauch süßer Düfte entgegen, der sie an die große Krankenstation auf Malta erinnerte. Thyrusholz oder etwas Ähnliches. Grymonde stieg die Stufen vor der Tür hinauf, dann fielen ihm seine guten Manierenein, und er wandte sich um und bat sie mit einer ausladenden Armbewegung, vor ihm einzutreten.
    Carla blieb stehen und schaute sich nach Antoinette um.
    Die rangelte mit einem Jungen, der fast zweimal so groß war wie sie, um die Blockflöte.
    »Antoinette, lass sie ihm«, rief Carla.
    Antoinette trat nach dem Jungen, traf ihn nicht und ließ die Flöte los. Sie schrie dem Jungen etwas zu und kam zu Carla gerannt, Tränen der Wut in den Augen. Beim Anblick Grymondes presste sie die Lippen zusammen. Carla drückte ihre Schulter.
    »Ich besorge dir eine neue«, sagte Carla. »Was hast du zu ihm gesagt?«
    »Dass ich sie mir später zurückhole.«
    »Du warst sehr mutig.«
    »Maman hat gesagt, wir müssen immer bereit sein, Gott gegenüberzutreten.«
    »Das stimmt, aber nicht für eine Blockflöte.«
    »Lasst sie hier draußen bleiben«, sagte Grymonde. »Es wird ihr nichts Schlimmes zustoßen, und sie kann immer noch hier an die Tür klopfen.«
    Carla zog Antoinettes Kappe zurecht.
    »Was möchtest du tun?«, fragte sie.
    Antoinette schaute zu der festlich fröhlichen Menge, die die Karren untersuchte.
    »Ich möchte ein bisschen hier draußen bleiben, wenn ich darf.«
    »Gut. Vergiss nicht, du kannst jederzeit zu mir kommen.«
    Als Antoinette fortging, um sich ihre Blockflöte zurückzuerobern, sah Carla eine magere Gestalt mit wilden Haaren halb verdeckt im Eingang des Hofes stehen.
    Es war Estelle, das Rattenmädchen, das durch den Kamin gekommen war.
    Das Mädchen war

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