Die Bogenschützin: Roman (German Edition)
umgaben.
Seit es Wilkin besser ging, hatte er begonnen, die verstreichenden Tage mit Kohlestrichen an einer Wand zu markieren. Er hatte sich damit abgefunden, dass seine falschen Entscheidungen sie alle dazu verdammt hatten, in einer verwunschenen Einöde den größten Teil des Winters zu verbringen. Um über die Folgen nachzudenken, die das für ihn haben würde, fehlte ihm die Kraft. Vorerst war er dankbar für jeden Tag, an dem sein Fieber ihn verschonte und er einigermaßen frei atmen konnte. Es war, als wolle das Schicksal ihn eindringlich lehren, was Beschämung bedeutete. Als hätte er seine Lektion nicht spätestens bei der Hinrichtung seines Bruders gelernt, warf es ihn gleich wieder zu Boden.
Seine Krankheit und die Umstände, die damit zusammenhingen, gehörten zu dem Bedrückendsten, was er jemals erlebt hatte. Solange er unverheiratet gewesen war, war ihm nie etwas Ähnliches zugestoßen. Und gerade jetzt, wo er die Verantwortung für seine Frau trug, wurde er schwach wie ein Knabe und musste zusehen, wie sie auf ihre unbedachte Art das Heft in die Hand nahm, so gut sie es vermochte. Er war sicher, dass sie sich nur deshalb wieder so roh und unweiblich verhielt, weil er ihr nicht der Mann war, der er hätte sein sollen. Sie hätte es niemals nötig haben dürfen zu jagen, um zu essen, oder allein auf Kundschaft zu reiten. Wie sollte sie ihn respektieren können, wenn er sie nicht vor solcher Männerarbeit bewahrte?
Er musste sich schnellstens erholen und sie an Sigismunds Hof bringen. Dort würde sie wieder die anmutige Edelfrau sein dürfen, zu der ihre Geburt sie bestimmt hatte, und kein gegen die Kälte in Felle und Lumpen gehülltes Weib, das lästerlich fluchte, weil ein Messer zu stumpf war, um einen Hasen abzubalgen.
Nicht dass sie nicht dennoch begehrenswert gewesen wäre. Während alle um sie her kränkelten, matt und übellaunig waren, strahlte sie Gesundheit und Zuversicht aus. Einzig nachdem herausgekommen war, dass ihre Irina zu Fall gekommen war, hatte sie sich einige Tage verstört verhalten, was er ihr nachfühlen konnte. Er war über diese Neuigkeit ebenfalls noch nicht mit sich im Reinen. Die Frauen hatten ihm nicht verraten wollen, wer der Vater war, doch früher oder später würde die Wahrheit schon ans Licht kommen. Vorerst versuchte er, den wachsenden Bauch zu übersehen, und dachte höchstens über die nächstliegende Frage nach: Wie sollte die am Ende des Winters hochschwangere Frau die anstrengende Weiterreise nach Ofen überstehen?
Im Laufe der nächsten Wochen kreisten Wilkins Gedanken so wie die aller anderen allerdings nur noch darum, wie sie den Winter überleben sollten. Sehr bald entschieden sie, die drei schlechtesten Pferde zu töten, um Futter zu sparen und Fleisch zu gewinnen. Sie machten Vorräte von geschlagenem Holz im nahen Wald ausfindig und durchsuchten die leerstehenden Gebäude nach Krumen von Essbarem und Dingen, mit denen sie sich die Zeit vertreiben konnten. Viel fanden sie nicht, doch immerhin ein altes Bankbrett, auf das Wilkin mit Ruß und einem kreidigen weißen Stein die Dreieckszacken für das Feld eines Wurfzabelspiels zeichnete. Mit geschnitzten Spielsteinen und den Würfeln eines der Knechte lehrte er Hedwig die Regeln. Zu seinem Glück begeisterte sie sich für das Spiel, und sie verbrachten gemeinsam viele Stunden damit.
Immer offener machte derweil Hüx Borbála den Hof. Wenn es nicht längst darüber hinausging, was sie zusammen taten, so wie Wilkin es vermutete. Der junge Pferdeknecht wirkte auf einmal reif und zufrieden und ließ sich einen Bart stehen, der von hinzugewonnener Männlichkeit zeugte.
Auch Wilkin gewann seinen männlichen Stolz nach und nach zurück. Als der Taumonat begann, begleitete er die Frauen auf der Jagd und war wieder stark genug, die Beute zum Dorf zu tragen. Am Ende des Monats war der Schnee im Tal geschmolzen und das Wetter beständig sonnig. Wilkin ritt mit Karl und Laban zu den Pässen, musste aber enttäuscht umkehren. Seine Ungeduld wuchs, doch der Ostermond kam, bevor die Wege endlich passierbar waren und sie aufbrechen konnten.
Zu dieser Zeit konnte keine Rede mehr davon sein, dass Irina sie begleiten würde. Sie war die Erste, die es für besser hielt zurückzubleiben.
» Dann bleibe ich auch«, sagte Hedwig, wie Wilkin es nicht anders von ihr erwartet hatte. Er wusste, dass es ihr grausam erscheinen musste, wenn sie Irina allein ließen, aber den Weg ohne Hedwig anzutreten, war für ihn
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