Die Bogenschützin: Roman (German Edition)
fand sie dagegen ungastlich, auch wenn sich gelegentlich rosa blühendes Leimkraut und Steinbrech unter die Pflanzen mischten. Selbst die schönen, doch eiskalten Seen, über die sich oft unerwartet dichter Nebel herabsenkte, hätte sie gern hinter sich gelassen.
Der lange Weg über den Pass bestimmte den ersten Tag ihrer Suche. Wie beim ersten Mal konnte sie sich nur noch einen notdürftigen Lagerplatz suchen, als sie die Klamm am anderen Ende verließ, und sie stellte fest, dass die neuen Stiefel, die sie für gut gehalten hatte, bereits begannen, sich aufzulösen, was den Zustand ihrer schmerzenden Füße erklärte. Trotz ihrer Müdigkeit flickte sie noch am Abend die Nähte und dankte wieder einmal Richard dafür, dass sie für diese grobe Nadelarbeit gerüstet war und wusste, was sie zu tun hatte.
Ihre Gedanken schweiften von ihm zu Wilkin, während sie Stich auf Stich die beschädigten Nähte nachzog und verstärkte. Wie hätte es Richard berührt, wenn er gesehen hätte, dass das Weib, zu dem sie dank seiner Fürsorge herangewachsen war, seinem Sohn oft so sehr missfiel? Auf Wilkin wäre er stolz gewesen, da gab es für sie keinen Zweifel. Auf wessen Seite hätte Richard in einem Zwist wie ihrem letzten also gestanden? Hätte auch er von ihr erwartet, untätig zu bleiben? Sie erinnerte sich, wie er darauf bestanden hatte, dass sie sich geziemend kleidete und pflegte, so gut es unter den einfachen Umständen möglich war. Er hatte es nicht gemocht, wenn sie laut war, und sie wusste nicht, wie er es aufgenommen hätte, wenn sie ihm oft widersprochen hätte. Gewiss wäre es ihm lieber gewesen, wenn sie im Schutz ihrer Familie weibliche Tugenden erlernt hätte. Auf der anderen Seite hatte er Frauen verabscheut, die zwar nicht offen ihre eigene Ansicht vertraten, dafür aber Intrigen sponnen und logen, um ihre Ziele zu erreichen. Und er hatte Hedwig alle Fertigkeiten gelehrt, die sie beherrschte und die nicht nur ihr, sondern auch seinem Sohn das Leben gerettet hatten. Vielleicht hätte er nicht von Herzen gutgeheißen, was sie tat, doch er hätte ihr verziehen.
In den nächsten Tagen begann sie, die Menschen zu suchen, statt sie zu meiden. Mit Händen und Füßen, auf Deutsch, durchmischt mit Latein und Brocken von Ungarisch, die sie mittlerweile aufgeschnappt hatte, erkundigte sie sich nach dem Verbleib der Reisenden, unter denen ein junger Mann mit roten Haaren, eine Hochschwangere oder Frau mit einem Neugeborenen und eine starke Schwarzhaarige mit weiten Hosen waren. Gleich am ersten Tag hatte sie damit Glück. Zwei Schafhirten, die auf hohen dreibeinigen Sitzen bei ihrer Herde thronten, zeigten ihr die Richtung und erwiesen sich von ihrer Erscheinung weniger verblüfft, als sie es erwartet hatte. Ihr Pferd weckte die Neugier der Männer stärker als sie selbst, was Hedwig dazu bewog, ihre Wehrhaftigkeit zu betonen, indem sie auffällig das lange Messer an ihrem Gürtel und ihren Bogen sehen ließ.
In der Folge wurde es schwieriger. Sie näherte sich der in einem Tal gelegenen Stadt Martin, doch den wenigen Hinweisen nach, die sie erhalten hatte, waren ihre Freunde nicht dorthin unterwegs gewesen. So mied auch sie die Stadt und folgte weiter den raren Spuren. Sie traf jedoch immer weniger Menschen, an die sie sich heranwagte, und fragte meist vergeblich.
Am neunten Tag hatte ihr Weg sie wieder höher ins Gebirge geführt, und sie fühlte sich entmutigt und erschöpft, da auch ihre Vorräte zur Neige gingen. Sie wäre bereit gewesen aufzugeben, wenn die Vorstellung, umzukehren und den ganzen Weg allein noch einmal bewältigen zu müssen, sie nicht abgestoßen hätte. So verwarf sie ihren Vorsatz, am elften Tag umzukehren, und hielt sich weiterhin westlich.
Am zwölften Tag ihrer Suche, als sie von einigen Stellen ihres Pfades bereits den Rand des Gebirges und die angrenzende Ebene hatte erspähen können, wurde sie schließlich gefunden. Ihr Pferd bemerkte vor ihr, dass sie beobachtet wurden. Nervös spielte Tiuvel mit den Ohren und schielte zu den Felsen oberhalb ihres Weges hinauf. Hedwig vermutete dort Raubzeug, wie einen Luchs oder Bären, nahm den Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil auf. Gleich darauf erklang jedoch die Stimme eines Jungen, der sie auf Slowakisch anrief. Was die Worte bedeuteten, wusste sie nicht, doch sie kannte die Stimme aus ihrer Zeit im Tal. Mit freudig klopfendem Herzen wartete sie, bis der Halbwüchsige mit dem verkrüppelten Arm zwischen den Felsen sichtbar wurde und,
Weitere Kostenlose Bücher