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Die Bogenschützin: Roman (German Edition)

Die Bogenschützin: Roman (German Edition)

Titel: Die Bogenschützin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Sophie Marcus
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kein Mensch– nur der Schädel eines Drachen, der mitten auf der Herdstelle lag.
    Die Nacht, die Hedwig gemeinsam mit ihrem Pferd in dem verlassenen Haus verbrachte, das ihr über Monate ein Heim gewesen war, wurde zu der bis dahin unheimlichsten ihrer Reise. Solange sie ein Ziel gehabt hatte, hatte sie sich nicht gefürchtet, doch nun hielt nichts mehr ihre wilde Vorstellungskraft davon ab, ihr die schrecklichsten Bilder von dem zu malen, was ihren Freunden und den letzten Dorfbewohnern widerfahren war. Was hatte der Drachenschädel zu bedeuten? Wer hatte ihn erneut aus der Höhle ins Dorf getragen?
    Jeder Laut ließ sie in der Dunkelheit aufschrecken, als hätte sie nicht zuvor nächtelang Käuzchen, Marder und Luchsrufe gehört.
    Müde und sorgenvoll ging sie am Morgen in Borbálas Haus, um sich noch einmal umzusehen. Tiuvel folgte ihr mittlerweile wie ein Hund, auch in das Haus hinein. Sie ließ ihn gewähren, weil er sie damit über das plötzliche Gefühl von Einsamkeit hinwegtröstete. Bis jetzt hatte sie zwar befürchtet, aber nicht geglaubt, dass sie Irina und Hüx verlieren könnte. Nun schien es ihr, als hätte sie ihr Alleinsein auf der Reise nur deshalb genießen können, weil sie geglaubt hatte, am Ende ihre Freunde anzutreffen. Nachdenklich blickte sie auf den Schädel, der mit seinen leeren, schwarzen Augenhöhlen zur Tür starrte, während Tiuvel ungezogen ihre Nachgiebigkeit ausnutzte und an den Schnitzereien eines Holzpfeilers nagte, als könne er draußen kein Futter finden.
    Ratlos hob Hedwig den Schädel auf. Darunter entdeckte sie in einem Nest aus Herdasche eine ihrer eigenen Pfeilspitzen. Am matten Glanz des schwarzen Eisens war zu erkennen, dass jemand sie sorgsam poliert und eingefettet hatte. Wie der Schädel zur Tür gestarrt hatte, so zeigte auch die Pfeilspitze dorthin. Sie zweifelte nicht länger daran, dass es sich hier um ein Zeichen handelte, das ihr galt. Bori und die anderen hatten das Dorf verlassen, und das vermutlich aus freien Stücken, da sie Zeit gehabt hatten, sich diese seltsame Botschaft für sie auszudenken.
    Wenn es Bori gewesen war, die den Drachenschädel aus der Höhle geholt hatte, damit sie ihn fand, konnte es nur bedeuten, dass sie mit den anderen ebenfalls nach Osten zu den Hussiten gezogen war wie die früheren Dorfbewohner. Den Grund dafür konnten der Schädel und die Pfeilspitze Hedwig allerdings nicht verraten. Eine Weile stand sie nur da, kraulte ihrem Pferd die Mähne und hielt die Pfeilspitze in der geschlossenen Faust. Es mochte sein, dass Hüx sich entschlossen hatte, bei Bori zu bleiben. Dass aber Irina in ihrem Zustand, gleichgültig ob kurz vor oder nach der Geburt ihres Kindes, zu den Hussiten hatte überlaufen wollen, konnte Hedwig nicht glauben. Gewiss hatte sie sich ihnen nur angeschlossen, weil sie auf Hilfe vergeblich gewartet hatte und ihr nichts anderes übriggeblieben war.
    Gründlich wog Hedwig ab, wie gefährlich und wie aussichtsreich es ihr erschien, in diesem fremden Land auf die Suche nach ihrer Freundin zu gehen. Doch gerade weil die Gefahr groß und die Aussichten auf Erfolg klein wirkten, widerstrebte es ihr, nach Ofen zurückzukehren, ohne einen Versuch zu unternehmen. War sie einmal wieder mit Wilkin vereint, würde sie vermutlich niemals wieder die Gelegenheit erhalten und ewig mit der Ungewissheit leben müssen, ob es ihr nicht doch gelungen wäre, Irina zu finden. Zehn Tage wollte sie sich geben. Wenn sie bis dahin keine Spur von den Gesuchten entdeckt hatte, würde sie aufgeben.
    Nach Westen musste ihr Weg sie führen, so viel wusste sie. Zu Beginn machte das Gebirge es ihr leicht, denn es kam nur der Pass aus dem Tal infrage, über den sie beim ersten Mal gekommen waren. Sie erkannte die Stelle wieder, an der ihr Führer abgestürzt war, und führte Tiuvel daran vorüber, ohne hinabzublicken. In Boris Gesellschaft war sie inzwischen so viele noch haarsträubendere Bergpfade gestiegen und geklettert, dass sie keine Angst vor der Höhe mehr fühlte. Doch sie liebte das Gebirge nicht und hätte es jederzeit freudig gegen die Wälder der brandenburgischen Ebenen eingetauscht.
    Den Steinadler, der auch dieses Mal wieder neben ihr über der Klamm dahinzog, bewunderte sie dennoch. Auch die Gemsen begeisterten sie, die sie gelegentlich an schroffen, entlegenen Stellen erspähte, von denen sie sich nicht erklären konnte, wie die Tiere sie erreicht hatten. Die abweisenden Felsen mit ihrem kargen, niedrigen Bewuchs aus Polstersegge

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