Die Bogenschützin: Roman (German Edition)
durch seine Behinderung gebremst, langsam zu ihr herabkletterte. Er begrüßte sie mit einem Kopfnicken, ohne ihr Lächeln zu erwidern, und bedeutete ihr durch Gesten, ihm zu folgen.
Zuerst führte er sie in ein zu drei Seiten abgeschlossenes Tal, dessen vierte Seite mit einem rohen Zaun abgesperrt war. Vier Pferde standen darin im Schatten eines Felsüberhanges und kraulten sich das Fell, unter ihnen Irinas Schimmelstute und der braune Wallach, den Hedwigs Onkel Hüx überlassen hatte. Glücklich sattelte sie ihren Schwarzen ab und ließ ihn zu den anderen, bevor sie sich wieder dem wartenden Knaben zuwandte. Dessen Miene war noch immer seltsam ausdruckslos und feindselig, anders, als sie es von ihm in Erinnerung hatte. Im Winter hatte er zwar auch nie froh gewirkt, doch umgänglich und durchaus dankbar für den Beitrag, den sie zur Versorgung aller leistete. Nicht zum ersten Mal ärgerte sie sich, dass sie seine Sprache nicht sprach. Ihre wenigen Worte hatte sie von Bori gelernt, und mittlerweile hatte sie herausgefunden, dass Boris Ungarisch nicht dasselbe war wie das Slowakisch der anderen Dorfbewohner. Deshalb stieg sie dem Jungen nun wortlos nach, obgleich sie ihn gern so vieles gefragt hätte.
Nach langwieriger und mühsamer Kletterei erreichten sie den Eingang zu einer Höhle. Auf einem anderen Weg musste der Ort einfacher zugänglich sein, denn auf einem breiten Sims in der Nähe stand ein Erntewagen, den Hedwig aus den Beschreibungen einiger Ritter und Kriegsknechte als einen Heereswagen der Hussiten kannte. Schwere Bretter und Bohlen verstärkten den hohen Aufbau und ließen sich auch unter dem Wagen anbringen, um Feinde davon abzuhalten, unter den Wagen hindurch in das Innere der legendären hussitischen Wagenburgen zu kriechen. Allzu wilde Krieger erwartete sie in der Höhle dennoch nicht. Die Wache bestand aus der einäugigen Hundertjährigen, die ihr ebenfalls aus dem Dorf bekannt war. Die Alte nickte ihr ausdruckslos und schweigend zu, sodass Hedwig mit aufwallender Sorge an ihr vorüber in die Höhle schritt. Der Gestank von ungewaschenen Menschen, schmutzigen Kinderwindeln und Fäulnis schlug ihr entgegen. Kurz musste sie die Augen schließen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, dann sah sie Irina.
Ihre Freundin lag schlafend auf Fellen und Lumpen, neben ihr in einem Korb der Säugling. Nicht dieses Kind, sondern ein anderes begann nun zu schreien, und Hedwig sah sich um. In einem anderen Teil der Höhle saß eine weitere junge Mutter, die ihr unzufriedenes Kind soeben an ihrer Brust zum Schweigen brachte. Eine ältere, hochschwangere Frau half ihr dabei, den Säugling anzulegen. Außer dem alten Mann aus dem Dorf sah Hedwig alle hier versammelt, die sie von dort kannte. Darüber hinaus noch ein Dutzend Alte und Kranke mehr. Hüx oder Bori waren zu ihrem Bedauern nicht unter den Leuten. Niemand zeigte Überraschung über ihre Ankunft, was ihr verriet, dass man sie wohl schon früher beobachtet und angekündigt hatte. Desgleichen näherte sich niemand, als sie nun leise an Irinas Lager trat und sich zu ihr setzte.
Von dem eingewickelten Säugling war nur das winzige, etwas verkniffen wirkende Gesicht zu sehen. Hedwig hatte in ihrem Leben bisher kaum mit so kleinen Kindern zu tun gehabt und stets angenommen, es wäre früh genug, sich mit ihnen zu beschäftigen, wenn sie selbst welche bekam. Doch als sie nun in das Körbchen blickte und das Kind seine Augen aufschlug und sie ansah, berührte es sie. Gern hätte sie es aufgenommen und ein wenig von seinen Hüllen befreit, um es genauer zu betrachten. Keinen Gedanken verschwendete sie mehr daran, ob Cord sein Vater war oder der abscheuliche Ludwig von Torgau. Es war Irinas Kind, und es war wunderschön mit seinen großen, ruhigen blauen Augen.
Irina seufzte, drehte sich im Schlaf und wandte sich gleich wieder stöhnend zurück. Sie wirkte zarter und zerbrechlicher denn je. Das Kind verzog die Lippen und stieß einen unzufriedenen Laut aus.
» Irina?«, fragte Hedwig leise.
Als Irina ihr das Gesicht zuwandte und sie ansah, überfiel Hedwig mit einem Schlag die grauenvolle Erkenntnis, dass ihre Freundin nicht dalag, weil sie sich ausruhte. Das Licht reichte nicht aus, um genau zu erkennen, welche Farbe ihre Lippen oder das Weiß ihrer Augen angenommen hatten, doch Hedwig hatte inzwischen lange genug an den Betten fiebernder Kranker gesessen, um zu erkennen, wie schlimm es um Irina stand.
» Endlich kommst du«, flüsterte ihre
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