Die Bogenschützin: Roman (German Edition)
Vielleicht. Aber wenn nicht, dann musst du mir meine letzten Wünsche erfüllen. Denn außer dir gibt es niemanden, der es tun könnte. Ich bin in der Nacht zu dem Schluss gekommen, dass der Herrgott dich mir auch deshalb geschickt hat. Gibst du mir also dein Wort?«
» Richard, sie haben mich nie gesucht. Vielleicht sind sie alle tot. Niemand würde mich erkennen. Was sollte ich den Menschen sagen?«
» Du wirst ihnen sagen, wer du bist. Und es wird sich jemand finden, der für dich sorgt. Ein Bruder, ein Onkel, ein Schwager. Es ist dein Recht, und du sollst es einfordern. Aber das ist nicht alles, worum ich dich bitte. Du sollst auch etwas für mich allein tun. Weißt du noch, wie oft du als Kind gefragt hast, warum ich hier im Wald lebe?«
» Weil du mit meinem Vater und seinen Freunden gestritten hast und sie dich deshalb verstoßen haben.«
» Ja. Obgleich der Streit nicht deinen Vater betraf. Er hat nur Recht gesprochen, so gut er es vermochte.«
Ein Hustenanfall unterbrach seine Rede, und Hedwig half ihm, sich aufzusetzen, damit er leichter Luft holen konnte. Es dauerte lange, bis er sich, erschöpft von Schmerz und Atemnot, wieder auf sein Kissen sinken ließ.
» Lass uns später weiterreden«, sagte sie.
Diesmal umfasste er ihren Unterarm. » Nein. Hör mir zu. Noch einmal finde ich nicht den Mut. Ich habe einen Sohn, der mich nicht kennt. Den sollst du finden.«
Er atmete tief, schloss die Augen und ließ damit Hedwig Zeit, ihrer Verblüffung Herr zu werden. Ihre Gedanken und Gefühle überschlugen sich. Sogar eine Prise Eifersucht mischte sich in ihre Aufregung. » Wie alt ist dein Sohn? Wo ist er? Warum… Was soll ich tun, wenn ich ihn gefunden habe?«
Richard lächelte sein zartes Lächeln, ohne die Augen zu öffnen. » Das ist mein Mädchen. Du wirst ihn finden. Ich danke dir schon jetzt, Zaunkönigin. Er denkt, er wäre Hans von Torgaus Sohn. Sein Name ist Wilkin. Bring ihm mein Schwert und sieh nach, ob es ihm gutgeht. Von mir erzählen musst du ihm nicht.«
» Das verstehe ich nicht. Warum kennt er dich nicht?«
» Weil seine Mutter eine verdorbene Schlange war. Ihretwegen wollte ich nicht mehr unter Menschen leben. Ihr fiel spät ein, dass sie einen von Torgau wollte und keinen von Restorf. Da trug sie schon mein Kind. Damit ich ihr nicht ihre Heirat verderben konnte, hat sie mich geschmäht und verleumdet. Begegnest du diesem Weib, trau ihm nicht.«
Wieder übermannte ihn der Husten, schüttelte ihn bis halb zur Ohnmacht, bevor er wieder sprechen konnte. Eine ganze Stunde hielt er Hedwig auf diese Art bei sich, zwischen Husten und seinen Erinnerungen. Stück für Stück erfuhr sie, was er ihr nie zuvor preisgegeben hatte. Anschließend fiel er in einen unruhigen Schlaf, und sie verließ verwirrt die Hütte. Er mochte glauben, dass sie nun alles Nötige wusste, doch sie hatte nur die Hälfte verstanden. Wie kam es, dass eine Frau sein Kind empfangen hatte, die nicht sein Eheweib war? Hatte Richard nicht immer gesagt, zwei Menschen müssten heiraten, um Kinder zu bekommen? Selbst Tristan und Isolde aus dem alten Pergament, mit dessen Hilfe Richard sie das Lesen gelehrt hatte, hatten doch keine Kinder bekommen, obwohl sie sich liebten.
Danach fragen konnte sie Richard nicht, denn was zwischen Mann und Weib geschah, darüber hatte er mit ihr nie sprechen wollen. Gerade jetzt würde sie ihn damit nicht belästigen.
Ohnehin dauerte es nicht lange, bis sie ihre Fragen vergaß, denn Richard wurde so krank, dass sie bald nur noch Gedanken für seine Pflege und für Gebete übrig hatte, in denen sie um sein Leben flehte.
Beides reichte nicht aus, ihn zu retten. Stunden vor seinem Tod kam er zu sich und sprach seine letzten Worte. » Zaunkönigin«, sagte er, » nimm den Hund und das Ross, und lass den Habicht zurück. Ich werde bei dir sein.«
Richard zu begraben wurde die härteste Arbeit, die Hedwig je geleistet hatte. Es war nicht einfach, zwischen den Wurzeln alter Bäume ein Grab auszuheben, wie sie es sich vorstellte. Noch schwerer fiel es, den einzigen Menschen, den sie kannte und liebte, mit Erde zu bedecken, um ihn niemals wiederzusehen. Sie hatte nicht aufgehört zu weinen, seit sein gequälter Atem verstummt war.
Und danach, als sie glaubte, sich gefasst zu haben, und bereit für ihren großen Aufbruch war, kamen ihr erneut die Tränen, weil sie schon den geringsten seiner letzten Wünsche nicht erfüllen konnte. Isolde, der Habicht, den er zur Beizjagd abgerichtet hatte, wollte
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