Die Bogenschützin: Roman (German Edition)
sein ganzes vorheriges Leben dafür aufgegeben und sich dem Angesicht der Welt entzogen hatte.
War es nun nicht ihre Pflicht, seinem Sohn in seiner unverdienten Stunde der Schande beizustehen? Kurzentschlossen stand sie auf, verscheuchte auch Irina von der Truhe, auf der sie gesessen hatten, und öffnete deren Deckel. » Da ich das Spiel um den goldenen Schleier auf so unbedachte Weise aufgegeben habe, fürchte ich zwar, dass du auf ein Zeichen von mir keinen Wert mehr legst. Dennoch möchte ich dir einen Ersatz anbieten.« Sie drehte sich zu ihm um und hielt ihm den hellblauen Schleier eines ihrer Haarnetze entgegen.
Er rührte sich nicht. Nur sein Blick wanderte langsam vom Schleier in ihrer Hand zu ihren Augen. » Es war nicht recht von mir, dich darum zu bedrängen, obwohl ich wusste, was morgen geschehen wird. Wenn ich ehrlich bin, glaubte ich allerdings, du würdest mir ohnehin nichts geben. Dein Onkel…«
Hedwig zog ihre Hand zurück und lachte, als würde es ihr nichts ausmachen. » Du willst es also nicht. Das verstehe ich. Du musst es nicht erklären. Aber du solltest schon glauben, dass ich dir den goldenen Schleier überlassen hätte. Ich halte, was ich verspreche.«
Sein Lächeln wurde breiter, und er trat ein wenig auf sie zu. » Vergleiche ich deine ersten Schüsse mit denen, die du auf meinen Bruder und von Schwarzburg zieltest, hege ich dennoch Zweifel, ob du die Absicht hattest zu gewinnen.«
Hedwig fühlte, wie sie errötete und nicht nur ihr Ärger über die schlechten Schüsse wiederkehrte, sondern auch die Scham über ihr Vorhaben, absichtlich zu verlieren. » Das waren die Pfeile. Die unsinnigen Prunkstücke muss ein blinder Schuster gebaut haben. Aber ich möchte dich nicht belügen. Ich war erschrocken über mein eigenes Versprechen und dachte kurz, dass es wohl vernünftiger wäre zu verlieren.«
» Aber du hast es dir anders überlegt.«
Noch immer sah er ihr in die Augen. Es fiel ihr schwer, seinem Blick nicht auszuweichen, und auf einmal bekam sie kein Wort mehr heraus.
Er streckte ihr stumm die Hand hin, und sie gab ihm den Schleier. Im Hintergrund ließ Irina einen halb erstickten Laut des Unbehagens hören, doch das hielt Hedwigs Herz nicht davon ab, glücklicher zu schlagen.
» Und es wird dir nicht leidtun, gleichgültig, was morgen geschieht?«, fragte er.
Hedwig holte tief Luft. » Das wird es nicht. Ich wünsche dir das Beste, und das darf jeder sehen. Umso besser, wenn die Leute bemerken, dass ich zwar deinen Bruder hasse, aber nicht dich.«
» Wer auch immer dich zu mir gesandt hat, er hat einen Engel gesandt. Wirst du mir eines Tages verraten, wer dein Ziehvater war und warum er sich mir verbunden fühlte?«
Hedwig lächelte. » Es reicht doch, dass er es tat. Du kanntest ihn nicht, sein Name wird für dich nichts bedeuten. Und ihm wäre es lieber, wenn ich schwiege.«
Nun senkte Wilkin seinen Blick, betrachtete ihren Schleier und legte ihn behutsam in die Tasche, die an seinem Gürtel hing. Ausnahmsweise trug er keine Rüstung. » Mich dauert aber, dass er mir nur das Schwert zum Behalten schickte und nicht den Engel. Lebte er noch, würde ich gern mit ihm ein Gespräch darüber führen.«
Seine Verwegenheit überrumpelte Hedwig so sehr, dass ihr der Atem geraubt war. Hilflos wandte sie sich ab und tat, als müsse sie den Inhalt der Truhe ordnen, um sie wieder schließen zu können. » Du weißt nicht genug über mich, um so denken zu dürfen.«
» Was hat solches Empfinden mit dem Denken zu tun? Hast du nie die Geschichte von Tristan und Isolde gehört?«
Überrascht drehte Hedwig sich um und starrte ihn an. » Tristan und… Diese Geschichte habe ich…« Nie zu Ende gehört, wollte sie sagen, doch eine plötzliche Erkenntnis hinderte sie daran. Hastig sah sie sich im Zelt um. » Wo ist eigentlich mein Hund? Irina, hast du Tristan gesehen?«
Noch bevor Irina antworten konnte, hatte Hedwig die Zeltbahn zur Seite geschlagen, die das Haupt- vom Nebenzelt trennte, in dem sie mit Irina schlief. Die Form, die sich unter der Decke auf ihrem Lager abzeichnete, ließ an einen schlafenden Menschen denken. Hedwig jedoch fühlte einen anderen unheilvollen Verdacht. Vorsichtig näherte sie sich und zog vom Fußende des Bettes her die Decke zurück. Ihr Hund lag mit seltsam angezogenen Beinen auf der Seite und regte sich nicht mehr. Das Blut aus seiner durchschnittenen Kehle war tief in die Decken unter ihm eingesickert.
Fassungslos betrachtete Hedwig die leblosen Augen
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