Die Bogenschützin: Roman (German Edition)
zu fliehen. Scharf vor seiner Brust entlang flog das Geschoss und schlug mit einem Knall ins Holz ein. Entsetzt riss er die Arme hoch, um seinen Kopf zu schützen, und bewegte sich sonst nicht mehr, ebenso wenig wie Wilkins Bruder, der sie mit offenem Mund angaffte.
Mit dem vierten Pfeil auf dem Bogen ging sie noch zwei Schritte weiter, dann blieb sie stehen und zielte sorgfältiger. Ein Dutzend Pfeile ließ sie auf ihre Opfer los, und sie hätte auch noch die letzten vier aus ihrer Tasche verschossen, wenn sich nicht ein starker Männerarm warm um ihre Schulter gelegt hätte, während gleichzeitig eine Hand sanft, aber bestimmt in ihren Bogen griff und ihn senkte. » Es reicht, Drachenmaid. Sie haben sich längst in die Hosen gepisst, sieh sie dir an.«
Hedwig holte tief Luft, es klang wie ein Schluchzen. » Dieser stinkende Unrat wagt es, hierherzukommen und sich über uns lustig zu machen. Cord, es war anstrengend, sie nicht zu töten.«
» Das kann ich dir nachfühlen. Aber für jetzt ist es genug. Ich verspreche dir, dass sie zahlen werden, und zwar bald.« Der tröstliche Klang seiner Stimme beruhigte Hedwig so weit, dass sie den Pfeil, den sie bereits in der Hand hielt, zurück in die Tasche steckte.
Im Laufschritt eilte Wilkin von Torgau mit einem Dienstmann der Kurfürstin von der Vorderseite der Tribüne herbei. » Was, um Himmels willen… Cord, warum hast du mir nicht…«
» Besser, wir bringen sie weg«, erwiderte Cord.
Hedwig sah sich nach den Schützinnen um, die sie mit aufgerissenen Augen beobachteten und mit sich überschlagenden Stimmen ihre Aufregung zum Ausdruck brachten. Irina stand stumm bei ihnen, setzte sich jedoch in Bewegung, als Hedwigs Blick den ihren traf.
Zu fünft verließen sie auf Cords und Wilkins Drängen hin eilig den Turnierplatz, ohne Hedwigs Opfer, denen sich deren Freunde langsam wieder näherten, noch einmal zur Kenntnis zu nehmen. Einen von der Kurfürstin ihnen nachgesandten Pagen schickte Wilkin mit der Nachricht zu ihr zurück, dass Hedwig sich später erklären würde und vorerst um Verzeihung für die Unterbrechung des Wettstreits bäte.
Auf dem Weg zum Zelt ihres Onkels, zwischen den drei Männern, die sie umgaben wie eine schützende Mauer, ergriff Hedwig Irinas Hand. » Ich könnte sie töten, Irina. Ich war mir nicht ganz sicher, aber nun weiß ich, dass ich es kann.«
» Mein Gott«, murmelte Wilkin und legte seine Hand auf die Schulter der schweigenden Irina, um ihre Schritte noch zu beschleunigen. » Was ist zwischen euch vorgefallen? Warum hat mir niemand etwas davon gesagt?«
Cord zuckte mit den Schultern. » Was wäre dadurch gewonnen gewesen? War es nicht schwer genug für dich in den letzten Jahren?«
Hedwig hatte sich zuvor keine Gedanken darüber gemacht, ob Wilkin wusste, was seine Brüder gemeinsam mit von Schwarzburg ihr und vor allem Irina angetan hatten. Nun allerdings war sie froh, dass er es nicht gewusst hatte.
Je näher sie ihrem Zelt kamen, desto klarer wurde ihr, dass ihre Unbeherrschtheit sie wieder einmal zu einer Tat getrieben hatte, deren Ausmaß vermutlich das all ihrer bisherigen Fehler übertraf. Seufzend legte sie die Hand auf ihre heiße Stirn. » Was soll ich nun tun? Am liebsten möchte ich gleich fort. Kann ich das, oder würde ich damit alles noch schlimmer machen?«
Zu ihrer Verwunderung lachte Wilkin auf, klang jedoch eher verzweifelt als heiter. » Dieselbe Frage stelle ich mir schon den ganzen Tag. Cord, sag du es uns. Was sollen wir tun? Warten, bis das Unheil über uns hereinbricht, oder fliehen?«
Cord hielt ihnen den Zeltvorhang auf und warf ihm mit gefurchter Stirn einen tadelnden Blick zu. » Du hast dir nichts zuschulden kommen lassen und musst nichts weiter tun, als dein gewohnt gerades Rückgrat zeigen. Hedwig dagegen muss den Kopf einziehen und sollte sich nicht blicken lassen, bis ich erledigt habe, was vor mir liegt. Wenn es geht wie geplant, dann steht dein Bruder schon morgen vor seinem weltlichen Richter, Wilkin. Kannst du hier bei den Frauen bleiben? Dann gehe ich zurück und gebe acht, dass mir die Sache nicht aus der Hand gerät.«
Hedwig hielt Cord fest, bevor er gehen konnte. » Vor seinem Richter? Was bedeutet das? Hat er noch etwas anderes verbrochen? Und was ist mit von Schwarzburg?«
Sanft löste er ihre Hand von seinem Ärmel. » Lass es dir von Wilkin erklären. Und tu ein einziges Mal, was ich dir sage: Bleib hier und zeig dich nicht. Ich werde deinen Onkel herschicken, wenn ich ihn
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