Die Botschaft Der Novizin
er weitersprach. »Inzwischen hat sich dort einiges getan.«
Jetzt, da er wusste, was der Plan ihm zeigte, wurde Padre Antonio bewusst, wie stark sich das Kloster in den letzten Jahrhunderten verändert hatte, wie viel abgerissen und neu gebaut sowie ergänzt worden war. Die Gärten waren weitgehend verschwunden und der Hauptkirche und dem gepflastertenCampo di San Lorenzo gewichen. Auch zum nördlichen Kanal hin waren Gebäude hinzugefügt worden. Nur der Kreuzgang, die Kapelle und ein weiterer Hof gehörten zur alten Bausubstanz. Zwei Zisternen waren eingezeichnet. Doch wie sollte man in all den Gebäuden einen Tonkrug finden, der seit zwei Jahrtausenden ein Geheimnis bewahrte? Wenn er überhaupt jemals existiert hatte oder noch existierte. Er konnte ebenso gut eingemauert worden sein, wie man bei der Grundsteinlegung von Kirchen und Wohngebäuden aus Stein verfuhr. Man legte eine Kassette mit den Dokumenten der Errichtung, einen Segen oder sonst ein Amulett in einen hohlen Stein und errichtete darauf das restliche Haus. Die Gegenstände würden erst wieder ans Licht kommen, wenn das Gebäude abgetragen wurde – und das konnte eine Ewigkeit dauern.
»Warum zeigt Ihr mir das?« Der Pater sah den Sammler dabei nicht an, sondern ließ den Blick über den Grundriss schweifen und versuchte, sich die wesentlichen Merkmale einzuprägen. So wie er den Alten kannte, würde dieser es ihm wohl kaum gestatten, die Karte mitzunehmen. Jedenfalls nicht ohne Gegenleistung.
Die Stirn des Sammlers furchte sich. »Erzählt mir nicht, Ihr wüsstet es nicht. Was hat mir Hieronymus Aleander da für einen Anfänger geschickt? Wenn ich ein Mönch gewesen wäre, dem man die Aufgabe übertragen hätte, ein Versteck für einen Tonkrug zu finden, der ein Manuskript enthält, dann hätte ich mehrere Dinge beachtet ...«
Padre Antonio sah auf. Der Alte hielt ihn tatsächlich für etwas zurückgeblieben. Also führte er dessen Gedankengang fort: »... zum Beispiel, einen trockenen Ort zu suchen in dieser mit Feuchtigkeit und Salz geschwängerten Lagunenluft. Oder einen Platz, der auch nach drei-oder vierhundert Jahren zugänglich wäre, der nicht verbaut werden konnte und der die Zeit überdauern würde. Reparaturen mussten beiläufig erfolgen, oder am besten gar nicht, weil es keine Beschädigungen gab.«
Nun war er es, der grinste. Doch das Gesicht des Alten blieb unbeweglich. »Ihr vergesst etwas Wesentliches, junger Freund. Der Ort muss zu der Zeit, zu der dieser Mensch gelebt hat, bereits vorhanden gewesen sein. Deshalb habe ich nach alten Plänen gesucht. Und die Stelle muss in einem Bereich liegen, der nicht von jedermann betreten werden kann.«
Der Geistliche gab sich geschlagen. Natürlich hatte der Sammler recht. Mit diesem Plan konnte man viele der neueren Gebäudeteile von der Suche ausschließen. Wenn man davon ausging, dass sich das Manuskript immer noch dort befand, wohin man es seinerzeit verschafft hatte. »Der Ort könnte ebenso gut frei zugänglich sein, ohne dass man einen sonderlich großen Aufwand betreiben muss. Als Teil eines Altars, als Opferstock, als was weiß ich noch?«, konterte der Pater.
Der Sammler schüttelte den Kopf. »Er wäre längst entdeckt worden. Außerdem besteht so die Gefahr, dass das Manuskript durch allgemeine Widrigkeiten zerstört wird: Blitz, Brand, Überschwemmungen. So dumm werden sie nicht gewesen sein.«
Padre Antonio war beeindruckt. Der Sammler verstand es, zu argumentieren.
»Vielleicht fragt Ihr Euch«, fuhr der Alte fort, »warum man so einen Aufwand betreiben muss, um ein Buch zu verbergen? Nun, die Antwort ist: Bücher gehören zum Gefährlichsten, was es auf der Welt gibt. Dabei ist es unerheblich, ob sie die Wahrheit enthalten oder ob sie voller Lügen stecken. Sie sind. Das genügt. Denn die Menschen können darin nachschlagen und die Worte immer wieder lesen. Immer wieder, versteht Ihr? Sie verflüchtigen sich nicht wie beim Sprechen. Sie bleiben und verderben auf immer die Gemüter. Daher kann und darf man bestimmte Werke nicht öffentlich machen.«
»Man hätte es zerstören können, ins Feuer werfen, in der Lagune versenken. Nichts leichter als das!«, entgegnete der Pater ungerührt.
»Ihr seid ein Barbar. Wer weiß schon, wie zukünftige Jahrhundertedarüber denken? Wir haben das nicht zu entscheiden. Wir haben allein die Aufgabe, zu bewahren, damit die Generationen, die nach uns kommen, aus unseren Fehlern lernen können.«
Stumm sah ihn der Pater einige Zeit an.
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