Die Botschaft Der Novizin
Dann sagte er leise: »Die Mutter Kirche macht keine Fehler. Nur ein Ketzer oder ein Anhänger der neuen Religion würde dies bestreiten.«
»Mein lieber Pater«, der Ton des Sammlers wurde altmeisterlich und ein wenig belehrend, als müsse man den überschäumenden Willen eines Lehrlings erst einmal dämpfen, um ihn einer geregelten und durchdachten Arbeit zuzuführen, »die Kirche besteht aus Menschen. Und Menschen sind selbstverständlich fehlbar. Allerdings haben die Menschen die Möglichkeit, ein Gedächtnis aufzubauen und zu bewahren, das über den Einzelnen hinausreicht. Eine allgemeingültige Wahrheit, die sich aus den positiven Erfahrungen der Vergangenheit speist. Warum also sollten diese Menschen nicht dafür sorgen, dass man aus den gegenwärtigen Fehlern lernt und sie nicht mehr wiederholt, weil man nachlesen kann, wie in der Vergangenheit gefehlt worden ist.«
»Ihr liebt die Menschen zu sehr«, lächelte der Pater.
»Ich liebe das Bewahren. Die Menschen sind mir gleichgültig«, brummte der Alte und wedelte über die Karte hin. »Nehmt das Pergament, bevor ich es mir anders überlege, und verschwindet. Lasst mich wissen, wenn der Grundriss Euch bei der Suche hilfreich war. Wenn Ihr gefunden habt, was wir suchen, dann gebt mir die Karte zurück. Ach ja, vergesst nicht eine angemessene Entschädigung für meine Mühen.«
Der Pater war entlassen. Sorgsam faltete er den Plan entlang seiner ursprünglichen Knicke zusammen und steckte ihn ein. Unter der Türschwelle zum Kartenraum blieb er kurz stehen und drehte sich zu dem Sammler um, der ihm nachsah. Im Halbdunkel des Raumes wirkte er jünger und straffer, als er in der Bibliothek erschienen war.
»Was bedeutet Euch dieses Manuskript?«, fragte Padre Antonio. »Wenn ich es finde, werdet Ihr es niemals zu Gesicht bekommen, das wisst Ihr.«
Der Sammler sah ihn nur an. Aus einem Oberlicht drang ein fahler Strahl Helligkeit in den Raum, der sich in den Haaren des Alten fing und ihn mit einer Aureole umgab. Er sagte kein Wort und gab durch keinerlei Mienenspiel zu erkennen, was er dachte.
Achselzuckend drehte sich Padre Antonio um und ging nach draußen. Ein merkwürdiger Vogel, dieser Sammler, aus dem er nicht recht schlau wurde.
Noch als er auf die Straße trat, hielt ihn der Gedanke von eben gefangen. Der Sammler hatte etwas unausgesprochen im Raum stehen lassen: Wenn man daran interessiert war, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, musste die Überlieferung erhalten werden, um sie wieder ans Licht zu bringen. Zur rechten Zeit. Oder aber aber für ewig verschlossen bleiben, damit niemand sie erfahren konnte. Vernichten aber durfte man sie nicht.
Was, wenn der Zeitpunkt für die Aufdeckung nun gekommen war?
KAPITEL 35 Isabella schlief unruhig. Riesenhafte Initialen beugten sich über sie und drohten sie mit ihrem Gewicht zu erdrücken. Mit Händen und Füßen wehrte sie sich gegen die Übermacht, musste jedoch verlieren. Es waren zu viele und ihre Macht zu gewaltig, als dass sie sich hätte vor ihnen retten können. Ihr wurde die Luft abgedrückt, und in ihrer Verzweiflung suchte sie Hilfe im Erwachen, was ihr nur mit einer gewaltigen Willensanstrengung gelang. Mit einem Schrei stieß sie in die Schwärze der Nacht um sie her, verschwitzt und nach Atem ringend, die Augen weit aufgerissen, obwohl sie nichts sehen konnte.
Zuerst musste sie sich zurechtfinden. Über der Stadt lag einLaut, der ihr seit Kindheit vertraut war und den es nur hier gab. Es musste gegen Mitternacht sein, denn der Klang der Marangona, einer der fünf Glocken des Campanile, vibrierte in den Gassen der Serenissima. Er läutete die Mitte der Nacht ein.
Isabella wischte sich den Schweiß von der Stirn. Langsam wurden ihr die Geräusche bewusster. Vom angrenzenden Gebäudeteil, den sie und Suor Anna nicht betreten durften, drangen unmissverständliches Lachen und Stöhnen herüber. Gläser klirrten, Frauen kreischten. Dazwischen schwebte das dunkle Timbre von Männerstimmen, auf das helle Töne gurrend antworteten, als hausten Tauben unterm Dach.
Isabella fühlte sich, als sei sie gleichzeitig hellwach und völlig erschlagen vor Müdigkeit. Sie setzte sich ganz auf. Neben ihr vernahm sie die tiefen Atemzüge Suor Annas und die schnellen Francescas. Sie konnte das Kind nicht sehen, wusste jedoch, dass Anna es vor kurzem gestillt hatte und sie für mindestens zwei oder drei Stunden Ruhe haben würden. Jetzt wäre eigentlich die Zeit für eine tiefe Entspannung und einen
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