Die Botschaft Der Novizin
und nach Rom geschickt.
Widerwillig schloss Padre Antonio das schwere Buch. Er musste Isabella finden, und er musste sich die beiden anderen Bildzeichen im Kloster ansehen, damit er einen Eindruck davon bekam, was fehlen könnte. Denn dass die Initialen allein ausreichten, diesen einmaligen Klosterschatz zu heben, bezweifelte er. Er vermutete eher, dass sie eine verschlüsselte Botschaft darstellten, wo man zu suchen hatte. Wenn ihm jedoch der letzte Mosaikstein fehlte, passte der Schlüssel nicht ins Schloss. Folglich musste er unbedingt Isabella sprechen. Zwar konnte er verstehen, dass sie sich davongemacht hatte, aber unter diesen Umständen hielt er es für gefährlich. Die Novizin, die in den Kanal gestürzt und darin ertrunken war, hatte nicht zufällig den Tod gefunden; davon war er überzeugt. Auch sie war ermordet worden. Allerdings verstand er den Sinn dahinter nicht. Wenn ein Mensch mordete, verfolgte er damit einen Zweck. Grundlos wurden Menschen nur in Kriegen hingemetzelt – und da bestand das Motiv darin, zu siegen und Macht über Länder und Völker zu gewinnen, wenn auch der Tod eines Einzelnen zwecklos erschien.
Zuerst musste er sich jedoch die Tote ansehen. Er hoffte darauf, dass sie in der Kapelle aufgebahrt wurde, von der aus Suor Francesca nach Torcello gebracht worden war.
So war es denn auch. An der Stirnseite des Sarges brannten links und rechts Kerzen. Keine Menschenseele war zu sehen. Die Nonnen hatten vermutlich mit Suor Ablata zu tun. Außerdem herrschte Angst im Kloster. Zu viele Tote in zu kurzer Zeit. Entschlossen trat er an den Sarg heran und hob das sorgfältig gerichtete Habit am Hals an. Die blauen Flecken der Finger, die sich auf Höhe der Kehle in den Hals gepresst hatten, waren deutlich zu sehen. Das Mädchen war nicht allein durch Ertrinken zu Tode gekommen, wenn es überhaupt ertrunken war. Er glättete den Stoff wieder und strich die Falten zurecht. Dann hielt er kurz inne. Ihm kam ein weiterer Gedanke, doch die Furcht, die er in ihm auslöste, ließ seinen Atem flattern. Was, wenn das Mädchen nicht nur gewürgt worden wäre? Kurz entschlossen hob er den Rock des Mädchens ...
Seine Hände zitterten immer noch, als er sich ins Refektorium begab. Er durfte sich nicht von seinem eigentlichen Ziel ablenken lassen, musste sich auf das konzentrieren, was er mit Isabella gesucht hatte. Er verdrängte das Bild, das er gesehen hatte. Zu gegebener Zeit würde er sich daran erinnern.
Im Rückraum des Refektoriums ragte aus der ältesten Mauer das Epitaph hervor. Das Refektorium war ein Raum, in dem vier große Holztische standen. Am Kopfende, quer zu den Tischen, befand sich eine Erhöhung. Auf diesem Podest tafelten die Äbtissin, die Priorin und die Gäste des Klosters. Rechts davon ragte ein einzelner Hochsitz mit Leseständer empor. Dort saß bei jeder Mahlzeit eine der Nonnen und las laut aus der Heiligen Schrift oder aus einer Heiligenlegende vor. Die Nonnen hatten zu lauschen. Gespräche während des Essens waren strikt untersagt. Der Raum war hoch und nahm zwei Stockwerke ein, was seinen zweiten Charakter als Repräsentationsraum unterstrich. Längs des Raumes liefen im Obergaden jeweils zwei Fensterreihen mit fünf Fensteröffnungen entlang. Diese waren weder mit Glas noch mit Tierhaut verschlossen. Von dort konnte man auf das Treiben im Refektorium herabsehen.
Padre Antonio ließ den Gesamteindruck auf sich wirken. Frauenklöster, dachte er bei sich, waren getränkt mit Misstrauen. Überall konnte man stehen und lauschen, heimlich beobachten oder sich verbergen.
Kopfschüttelnd schritt er zu der Wand hinüber, in die der Gedenkstein eingelassen war. Die Nachmittagsstunde, die er für seine Betrachtung gewählt hatte, kam ihm entgegen. Die Frauen waren bei der Arbeit oder versammelten sich erneut im Chor, um ihr Nachmittagsgebet zu verrichten und für die verstorbene Mitschwester zu beten. So konnte er sich in Ruhe auf das Bild konzentrieren.
Das Epitaph zeigte eine Schreibstube, in der vier Eleven saßen. Ein Teil der Inschrift besagte, dass der Grabstein der Gründerin des Klosters gewidmet und hier im Refektorium zu Ermahnung und Erbauung des Konvents aufgestellt worden sei. Der Mönch, der am Katheder saß und lehrte, hatte eine Hand erhoben, den Zeigefinger gestreckt und forderte von den Studiosi Aufmerksamkeit ein. Diese hockten in ihren Bänken und hatten die Blicke ehrfürchtig und scheu auf den Magister gerichtet. Die andere Hand des Mönchs deutete nach
Weitere Kostenlose Bücher