Die Botschaft Der Novizin
vorn, als wollte er eben einen seiner Schüler aufrufen und examinieren. Doch sein ausgestreckter Zeigefinger zielte tatsächlich an den Schülern vorbei und hinein in das Kloster.
War dies ein Hinweis? Padre Antonio stellte sich dicht an das Epitaph und blickte in die Richtung, in die der Mönch zeigte. Die Linie führte in etwa auf die Pforte zu und damit aus dem Kloster hinaus. Konnte das sein? Er würde jedenfalls dieser Spur folgen; es war einen Versuch wert.
Doch das in Stein gehauene Bildnis hatte noch nicht alle seine Geheimnisse preisgegeben. Padre Antonio fiel die Darstellung der vier Schüler ins Auge: Drei davon waren zweifelsfrei Männer, doch der vierte im Hintergrund, auf den und an dem vorbei der Finger des Gelehrten zielte, war eine Frau. Daran gab es keinen Zweifel, auch wenn alles, was darauf hinwies, nur leichtangedeutet war. Das Gesicht war um das Kinn herum rund, die Wangen weicher modelliert, die Hände zierlich, der Wuchs insgesamt kleiner als bei den drei anderen. Auch das Haar war unter einer Haube verborgen, doch die Strähnen, die daraus hervorlugten, taten das in typisch weiblicher Manier, während bei den Männern nur Haare im Nackenbereich zu sehen waren. Der deutlichste Hinweis war jedoch ein kaum sichtbarer Brustansatz, der den anderen Eleven fehlte. Padre Antonio ließ Luft durch seine Zähne pfeifen: Der Bildhauer hatte hier heimlich eine Frau in die Schulstube geschmuggelt. Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten? Über dem Namen der Toten, die als erste Äbtissin diesen Konvent geleitet hatte, stand ein Spruch, der Padre Antonio ein Lächeln abrang:
»Quaerens invenies, inveniens scies!« , flüsterte er leise für sich. »Suche und du wirst finden. Finde und du wirst wissen.« Ihn schauderte, weil die Worte ihn sofort an Julia Contarini erinnerten. Was wie ein Spruch klang, der den nach Erlösung Suchenden trösten sollte und auf die Heilige Schrift verwies, konnte ebenso gut anders gelesen werden, als Hinweis auf das verborgene Schrifttum des Klosters. Sein Blick fiel auf das Pult der Elevin. Dort lag ein Papyrus, aufgerollt, als werde gerade darin gelesen. Die männlichen Schüler hatten Schiefertafeln oder wie der Lehrer Codizes vor sich liegen. Padre Antonio konnte sich darauf keinen Reim machen. Noch nicht. Nun, er würde suchen. Und sein nächster Weg würde ihn zu diesem Marienbild vor dem Eingang ins Kloster führen, doch zuvor musste er überprüfen, ob der Türkenkopf der Kopf eines Mannes war. Ein Geräusch, so fein, dass seine eigenen Schritte es beinahe verdeckten, ließ ihn aufhorchen, ohne dass er innehielt oder seinen Weg veränderte. Seine von der Musik geschulten Ohren orteten die Ursache für das Rascheln im Obergaden. Hinter den Fenstern musste sich jemand verbergen, der ihn beobachtete. Padre Antonio lief bis zur Tür, dort drehte er sich mit Schwung um, als wolle er noch einmal den Blick schweifen lassen,und beobachtete, aus dem Augenwinkel heraus, wie sich eine schwarz gewandete Gestalt hinter einem der steinernen Fensterkreuze des Obergadens verbarg. Er war also tatsächlich beobachtet worden.
Ohne weiter einen Gedanken daran zu verschwenden, eilte er in den Kreuzgang. Die Figur des Muselmanen war nicht leicht zu entdecken. Sie klebte regelrecht im äußersten Winkel eines der Kapitelle. Padre Antonio musterte sie genau. Wenn man sie von der Hofseite her suchte, musste man sie verfehlen. Nur wer vom Refektorium her in den Kreuzgang trat, dem offenbarte sich die Figur sofort. Hatte man sie einmal entdeckt, konnte man die Säule mit ihrer Kannelierung sogar für den Körper halten, der zum Kopf gehörte. Sie verbarg sich also bis zu einem gewissen Grad. Der Pater umrundete den Schaft und suchte nach weiteren Hinweisen, doch nur der Kopf stahl sich aus einem Pflanzengewirr heraus. Einzig ein Wasserstrahl, der sich aus dem Blätterdickicht ergoss und den der Mann mit dem Mund zu erwischen suchte, weshalb er auch den Kopf vorstreckte, zeigte, dass es sich um eine Oase handelte, die hier dargestellt war. Mehr Hinweise fand der Pater nicht. Eine Frau war der Turbanträger mit seinem Bart sicherlich nicht.
Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und versuchte, sich den Grundriss des Klosters vor Augen zu führen. Jetzt musste er in den Pfortenbereich und sich die Mariendarstellung betrachten. Doch bevor er dorthin ging, würde er sich seinen Plan holen. Rasch eilte er weiter, achtete dabei jedoch darauf, ob er weitere Geräusche vernahm.
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