Die Botschaft Der Novizin
eines griechischen Philosophen oder das bislang unbekannte Theaterstück eines Aristophanes oder Empedokles. Selbst das Fragment eines der Kirchenväter mochte genügen, den Finder unsterblich zu machen. Die Bibliotheken der Klöster waren wie Schwämme, vollgesogen mit dem Wissen aus Jahrtausenden. Man musste nur verstehen, sie auszudrücken.
»Hieronymus Aleander berichtete mir, dass ich es hier mit einem Fuchs zu tun hätte, einem erfahrenen und gewieften Verhandlungspartner.« Er griff unter seine Soutane und zog daraus eine Manuskriptseite hervor. An deren unterem Ende hingen zwei Wachssiegel, eingebettet in gebrannte Tonschalen. »Hier, das ist der handschriftliche Vertrag, dessentwegen sich der Erzbischof an Euch gewandt hat. Unterzeichnet vom Patriarchen von Aquileja. Er hatte damals die Herrschaft auch über Venedig inne.«
Der Alte erhob sich und drehte sich zu ihm um. In seinem Gesicht, das jetzt alle Jugendlichkeit von zuvor verloren zu haben schien und so alt wirkte wie die Manuskripte, die um ihn her lagerten, spiegelte sich keine Regung. Er streckte nur die Hand aus und forderte mit ungeduldigen Bewegungen der Finger das Blatt.
»Es geht vor allem um zwei Worte in dieser Urkunde«, fuhr Padre Antonio ungerührt fort. »Was sagt Euch der Ausdruck Custodes Domini? «
KAPITEL 9 »Psst!« Suor Maria zog Isabella in eine Nische. »Was ist los?«
Die Nonne legte den Zeigefinger auf die Lippen. Mit dem Kinn wies sie auf die gegenüber liegende Seite des Kreuzgangs, den sie durchqueren mussten, wenn sie zum Refektorium gelangen wollten.
Aufmerksam spähte Isabella hinüber zum Parallelgang. Der Gang lag im Halbdunkel des Sonnenschattens. Kein flüchtiger Beobachter hätte die Szene erspäht, weil sich die Beteiligten kaum rührten. Endlich sah auch Isabella, was sie zuerst nicht glauben wollte.
»Ein Mann!«, rief sie beinahe zu laut.
Die Nonne stieß sie mit dem Ellenbogen in die Seite, doch die beiden Personen unter der Säule mit der Drachenfratze schienen sie nicht gehört zu haben. Eng umschlungen standen sie reglos und küssten sich lange.
»Was macht ein Mann hier? Warum darf er das?«, flüsterte Isabella erregt.
Suor Maria hieß sie schweigen, bis die beiden Personen sich wegdrehten und verschwanden. Sie gingen in unterschiedliche Richtungen auseinander. Es war ein Abschied.
»Wer ...?«, versuchte Isabella zu fragen, doch die Nonne schnitt ihr das Wort ab.
»Das waren Julia Contarini, die Novizin, und der junge Hofstätter. Sie lieben sich und würden wohl auch heiraten – wenn er die Erlaubnis ihres Vaters bekäme.«
Isabella hatte bereits viel von den Nonnen Venedigs gehört, doch das war ihr noch nicht zu Ohren gekommen. Eine Liebschaft, die sich tagsüber ganz offen auf dem Gelände einesFrauenklosters zeigte. »Sie hat aber doch gelobt, nach den Regeln des Ordens zu leben!«
Suor Maria senkte ihre Stimme und zog Isabella näher zu sich heran.
»Als Novizin sollte sie zwar nur an ihren künftigen Bräutigam denken, den Herrn Jesus Christus, doch sie dient ihm nicht freiwillig. Signora Trevisan hat sie unter ihre Fittiche genommen, doch sie verweigert jegliche Arbeit und schleicht durch die Gänge wie ein im Käfig eingesperrtes Reh. Der Zweig der Familie, aus dem sie stammt, ist zwar verarmt, aber wenn sie sich fügen würde, käme sicher von irgendwoher das Geld für ihre Aussteuer.«
»Könnte das diesem Hofstätter nicht egal sein, wenn er sie begehrt ..?«, warf Isabella ein.
»Ihm durchaus, doch der Familie Contarini nicht. Es wäre eine Schande. Eine Heirat mit einem Deutschen? Unmöglich. Folglich wird es diese Ehe nicht geben .. Außerdem ..«
Suor Maria sagte das mit einem Anflug von Mitleid in der Stimme, als bedaure sie die Situation des Mädchens. »Außerdem ..?«, bohrte Isabella nach.
»Außerdem .. ist Julia krank.« Maria hob beide Hände. »Wie schon gesagt: Sie hat die Fallsucht. Ein andermal werde ich es dir näher erklären. Nicht jetzt!«, betonte sie.
»Und der Konvent drückt einfach ein Auge zu, wenn der junge Galan hier auftaucht?«, ergänzte Isabella.
Maria presste die Lippen aufeinander, ohne Isabellas Aussage zu bestätigen. »Die Zeiten ändern sich. Man berichtet, dass der Verfechter der neuen Lehre, dieser Bruder Martinus, eine Nonne geheiratet hat. Sie ist aus dem Kloster geflohen. Stell dir vor: eine Nonne, die ihre Gelübde um der Liebe willen gebrochen hat. Sie heißt Katharina von Bora. Mittlerweile soll sie sogar schwanger sein von
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