Die Botschaft Der Novizin
in der Öffnung, jedoch im Inneren und so, dass man es nur von unten sehen konnte, baumelte etwas im fahlen Licht der Restglut, die von oben durch den Rost fiel. Ein länglicher Gegenstand, der am oberen Ende einen Ring und am anderen einen Doppelbart aufwies. Ein Schlüssel.
Isabella wandte sich zu Suor Anna um und wollte eben fragen,ob ihre Tante womöglich in der Bäckerei hier gearbeitet habe, doch sie blickte in die Augen der Schwester und erkannte, wie diese leicht, aber bestimmt den Kopf schüttelte. Suor Anna hatte sie offensichtlich beobachtet. Sie wischte sich dabei den Schweiß von der Stirn und hielt sich schwer atmend ihren Bauch.
»Wir haben noch dreißig Brote vor uns«, lächelte die Nonne Isabella an, doch das Lächeln war starr, und ihre Miene flehte geradezu darum, dass sie den Mund hielt.
Isabella biss sich auf die Lippen. Was wusste Suor Anna? Hatte das Wort, das ihre Tante ihr in diesem ominösen Brief übermittelt hatte, etwas mit dem Schlüssel im Backofen zu tun? Nur langsam kehrte sie zur Arbeit an den Broten zurück, nachdem sie den Aschefall ausgeräumt hatte.
»Leg sie von links nach rechts aus, dann weißt du, wie weit die Brote sind und kannst sie wieder von links nach rechts aus dem Ofen holen.«
Suor Anna behandelte sie in den nächsten Stunden, als wäre nichts geschehen.
Doch Isabella selbst glühte innerlich. Wenn sie ihren Spatel ablegte, dachte sie an den Schlüssel unten hinter der Aschetür. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr die Sache. Suor Francesca, ihre Tante, war hier gewesen und hatte den Lumpen an den Finger gehalten und die Tür zum Ofenfall damit geöffnet und wieder verschlossen. Womöglich hatte sie diesen Schlüssel dort aufgehängt.
Mehrmals musste sie ausräumen. Je genauer sie den Schlüssel zu erkennen versuchte, desto klarer wurde ihr, dass man ihn nur herausnehmen konnte, wenn man tief in die Öffnung griff. Das würde jetzt auffallen.
Einmal versuchte sie mit dem Besen den Schlüssel abzuhängen, doch Suor Anna stieß sie derart heftig in die Rippen, dass ihr kurzfristig die Luft wegblieb. Wütend starrte sie Isabella an, und diese starrte wütend zurück.
Z WEITER T EIL
D IE S CHRIFT DES
S CHWEIGENS
KAPITEL 12 Sie kamen unangemeldet im Morgengrauen. Und sie kamen in einem demonstrativen Zug mit dem Patriarchen an der Spitze. Voran schritten die Provveditori sopra monasteri der Stadt Venedig in ihren dunklen Amtsroben und überquerten die Brücke bei San Lorenzo als Erste, doch ins Kloster durften sie nicht eintreten; also hatte der Patriarch gegen diese Reihenfolge nichts einzuwenden gehabt. Vor der Pforte überließen sie dem geistlichen Oberhaupt den Vortritt, und der Bischof wiederum übertrug Padre Antonio die Aufgabe zu klopfen.
Die Äbtissin erwartete sie bereits. Sie war als Einzige unter dem Siegel der Verschwiegenheit eingeweiht gewesen. Die Provveditori bildeten ein Spalier, ließen den Patriarchen mit seinem kleinen Gefolge hindurch – und blieben draußen. Der Patriarch und Padre Antonio durchquerten die innere Pforte, deren spitzbogiges Giebelfeld eine Madonnendarstellung zeigte. Alt und verwittert, strahlte das Bild noch immer eine Majestät und Würde aus, die Padre Antonio erstaunte. Nur das Spruchband und die Umstände, unter denen sich die Verkündigung vollzog, irritierten den Pater etwas. Doch blieb ihm nicht genug Zeit, sich der ungewöhnlichen Darstellung zu widmen. Vier weitere Geistliche, darunter zwei Beichtiger der Nonnen, folgten ihnen und drängten vorwärts.
Die Führung des Zugs in den Konvent der Frauen von San Lorenzo hatte jetzt Gerolamo Querine übernommen. Der Patriarch von Venedig schien sich auszukennen, denn er bewegtesich selbstsicher in den Gängen. Obwohl die Mutter Oberin nur neben ihm herging, zögerte er an keiner Gabelung des Wegs. »Zum Kapitelsaal, ehrwürdige Mutter«, gab er den Befehl, der eigentlich überflüssig war. Schließlich war, wie Padre Antonio wusste, der Raum bereits hergerichtet und mit einem Katheder versehen worden.
Demütig nahm die Oberin die Anweisung entgegen und führte sie durch das Labyrinth der Gänge, an dem das Alter des Klosters abzulesen war. Es platzte geradezu vor Anbauten, Nebengebäuden und Erweiterungen. Padre Antonio achtete darauf, dass er direkt hinter dem Patriarchen ging und keiner der Beichtiger, die nach ihm kamen, ihn von diesem Platz verdrängte. Schließlich erreichten sie den Kapitelsaal. Drei Stühle waren an der
Weitere Kostenlose Bücher