Die Botschaft Der Novizin
niedrigen Motiven handelte, oder versuchte hier jemand, ein Geheimnis zu verteidigen?
Der allgemeine Hinweis seines Herrn, womöglich würden die Frauen des Klosters Relikte aus der Zeit Jesu verbergen, war zu ungenau und befriedigte ihn keineswegs. Jedes Kloster bewahrte den einen oder anderen Schatz. Dabei wurde die Welt überschwemmt von Reliquien aus biblischer Zeit. Mit den Nägeln vom Kreuz Christi konnte man ein ganzes Haus zimmern, mit den Kreuzessplittern ganze Kaminfeuer unterhalten und mit den Gebeinen der Apostel jede Körpergrube im Umkreis von zehn Meilen füllen. Solange er nicht wusste, welches Geheimnis sich mit dem Begriff Custodes D omini verband, tappte er im Dunkeln.
Zu diesem Problem gesellte sich ein weiteres, wesentlich heikleres. Isabella Marosini hatte von zwei Toten gesprochen. Hier sah er nur eine. Wo mochte die zweite sein, die Tante der Educanda? Und warum wurde er nicht zu ihrem Leichnam geführt?
Padre Antonio hielt sich ein Tuch vor die Nase. Vor ihm lag die
Leiche Suor Marias, und hinter ihm stand die Äbtissin, deren
asthmatisches Schnaufen ihn beim Nachdenken störte. EineGewissheit besaß er jedenfalls: Die Nonne vor ihm war eindeutig einem Mord zum Opfer gefallen. Sie trug Wundmale am Hals, die vom Druck kräftiger Finger stammten. Kräftiger, als Frauenhände ihn ausüben konnten. Es mussten Männerhände gewesen sein, die hier über Tod und Leben entschieden hatten. Mit der Faust schlug sich der Priester in die hohle Hand, um seinem Ärger über all die Unzulänglichkeiten Luft zu machen. »Wann habt Ihr Suor Maria zuerst vermisst?«
»Zum Morgengebet. Da muss sie bereits tot gewesen sein. Sie half in der Backstube und war deshalb vom morgendlichen Chordienst suspendiert.«
Der Pater nickte. Auf den Gesichtszügen der Toten bildeten sich blaue Flecken, die ersten Anzeichen der Verwesung. »Wann werdet Ihr sie begraben?«
»Morgen wird sie auf dem Friedhof beigesetzt.« Sie lächelte versonnen. »Unter Obstbäumen. Ein friedlicher Gedanke.« Padre Antonio besah sich Marias Hals noch einmal genau. Es waren kräftige Druckstellen. Ein Finger, so schien es ihm, hatte ein besonderes Merkmal. Er hinterließ dort, wo der Hals in den Nacken überging, eine tiefe Delle, als trage der Mörder einen Ring. Wenn man annahm, Suor Maria sei von vorne erdrosselt worden, worauf die Druckstellen hinwiesen, musste es sich um einen Ring am rechten Ringfinger handeln. Einen Ehering vielleicht?
»Im Kloster selbst oder außerhalb?«, fragte er nach, nur um die Nonne am Reden zu halten. Sie atmete dann leiser. »Ich meine die Beisetzung!«
»Seit Jahren wird niemand mehr auf dem Klosterareal bestattet. Wir haben eine sehr flache Zisterne. Deren Wasser würde verderben. Unser Friedhof schließt im Süden an die Klosterkirche an. Wir können ihn nur vom Gotteshaus aus betreten.« Die Chornonne senkte die Stimme. »Den Frauen bedeutet es viel, wenn sie hin und wieder diese Mauern verlassen dürfen. Selbst wenn es nur für den Besuch eines Friedhofs ist.«
Das Gesicht der Toten wirkte friedlich und entspannt.
»Ich werde Suor Maria auf ihrem letzten Weg begleiten«, bestimmte der Pater und schnitt einen Einwand mit dem Heben seiner Hand ab. Er schlug ein Kreuz über der Toten: » Requie scat in pace!«
Sie standen beide mit gesenkten Köpfen am Fußende der Nonnen und beteten still ein Paternoster und ein Ave-Maria. Schließlich bekreuzigte er sich, und die Äbtissin tat es ihm gleich.
»Hat sich der Schlüssel gefunden, von dem Ihr mir erzählt habt? Mit dem die Nonnen Besucher unerkannt einlassen können?« Der Pater drehte sich von der Toten weg und bedeutete der Äbtissin, sie solle ihn nach draußen begleiten. Beinahe entschuldigend fügte er hinzu: »Ich habe genug gesehen.« Er schwindelte. Zu gerne hätte er die Nonne entkleidet und sich den Körper näher betrachtet, ob sich Kampfspuren oder sonstige körperliche Gewaltanwendungen finden ließen. Doch das schickte sich nicht. So konnte er nur spekulieren und musste eine These offen lassen: dass sie mit einem der Freier, den sie sich eingeladen hatte, in Streit geraten war.
»Nein, er bleibt weiter verschwunden.«
Sie verschlossen die Tür zur Kapelle und wandten sich dem Amtszimmer der Äbtissin zu.
»Ihr wisst, was das bedeuten könnte, Mutter Immacolata? Die Frauen sind so lange nicht sicher, solange der Schlüssel nicht in Euren Händen ist.«
Die Äbtissin nickte. »Ich werde Nachtwachen einrichten. Die älteren Schwestern
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