Die Botschaft Der Novizin
konnte keine Tür damit aufschließen und ins Freie gelangen. Man konnte damit nur eine Handschrift öffnen. Und die lag im Nonnenchor. Was um alles in der Welt konnte ihre Tante dazu veranlasst haben, einen solchen Schlüssel im Backofen des Klosters zu verbergen? Unwillkürlich griff sie nach ihrer Innentasche, in der ihr eigener Schlüssel steckte, und hätte beinahe einen Schrei ausgestoßen. Sie fühlte ihn nicht. Er war nicht dort, wohin sie ihn gesteckt hatte. Hastig klopfte sie ihre Kutte ab. Nichts.
Ihre Nachbarin rechts stieß sie in die Seite, und beinahe sofort setzte Isabellas Stimme ein, als hätte sie jahrelang nichts anderes geübt. Sie spürte, wie Blicke auf ihr ruhten. Sie getraute sich nicht, sich umzudrehen. Im Grunde brauchte sie es auch nicht, denn sie ahnte, wer sie beobachtete: Signora Artella.
Wie eine mechanische Puppe bewegte sie sich im Auf und Ab des Gottesdienstes, ohne tatsächlich daran teilzunehmen. In ihrem Schädel überschlugen sich die Gedanken. Wo konnte sie den Schlüssel verloren haben? Sie kämpfte gegen die Tränen, musste sich an der Bank festhalten, um nicht zusammenzusacken. Endlich durften sie sich auf die mit Samt gepolstertenKniebänke niederlassen, was ihr ein wenig Erleichterung verschaffte.
Gänzlich in sich versunken, verspürte sie die Berührung an ihrer Hand erst, als Julia sie mit ihren spitzen Fingernägeln in den Handballen stach. Vornübergebeugt, während sie mechanisch das Glaubensbekenntnis herunterleierte, war die Lage ihrer Hände von hinten nicht zu sehen. Die Novizin schob ihr einen Gegenstand unter die Handfläche. Isabellas Herz setzte für den Bruchteil eines Augenblicks aus, um danach mit doppelter Geschwindigkeit weiterzuschlagen: Es war der Schlüssel. Sie spürte den Bart, das Metall, die Form. Ein rascher Blick zur Seite verschaffte Isabella Gewissheit. Julia Contarini grinste. Und jetzt erinnerte sich Isabella auch an den Zusammenstoß. Bei dieser Gelegenheit musste das Mädchen ... Isabella wollte nicht weiterdenken. »Diebin!«, zischte sie nur und sah, wie die Contarini ihre Augen nach oben verdrehte und unhörbar auflachte.
Die restliche Non verging wie im Flug. Isabella schwebte durch die Stundengesänge und Gebete, als würde sie von einer Woge getragen. Gänzlich benommen erwachte sie an ihrem Ende aus der Versenkung und bemerkte erschrocken, dass sie als Letzte im Gestühl kniete. Selbst die Novizin war verschwunden. In ihrer Linken spürte sie das Metall des Schlüssels, das sich eigenartig heiß anfühlte.
In der Hoffnung, dass ihre Beine sie tragen würden, erhob sie sich rasch und wollte mit den letzten Frauen den Nonnenchor verlassen. Dabei musste Isabella an Signora Artella vorüber. Diese hielt sie am Arm fest.
»Du bleibst hier und gehst der ehrwürdigen Mutter Ablata zur Hand.« Sie deutete zu der Alten hinüber, die am Lesepult stand und versuchte, die Handschrift zu schließen. Die klein gewachsene alte Frau brach beinahe unter dem Gewicht der schweren Holztafeln zusammen, die den Einband der Neumenhandschrift bildeten und in den die Beschläge eingelassen waren.
Beinahe schüchtern bot Isabella ihr Unterstützung an, doch die alte Nonne reagierte äußerst heftig.
»Lieber will ich auf der Stelle tot umfallen, als dich dieses Buch berühren zu lassen!« Isabella zuckte erschrocken zurück. Die Nonne umklammerte die Handschrift, als gelte es, den Klosterschatz zu verteidigen.
»Dann lasst es doch offen!«, konterte sie.
Die Choralhandschrift mit ihren Illustrationen war sicherlich sehr wertvoll, ein wahrer Schatz. Den Deckel zierten elfenbeinerne Einlegearbeiten, in die blutrote Rubine eingelassen waren. Doch sie war so unhandlich zu transportieren und so sperrig, dass es für Isabella unvorstellbar war, es könnte sie jemand beiseiteschaffen wollen. Warum also sollte sie abgeschlossen werden?
Schwester Ablata bedachte sie mit einem Blick der Verachtung und mühte sich weiter. Dreimal versuchte sie es vergeblich, die Deckhölzer hochzustemmen. Isabella stand nur daneben und sah zu. Sie würde nicht mehr eingreifen, solange sie nicht darum gebeten wurde.
»Jetzt komm schon und geh mir zur Hand, Mädchen«, fauchte die Nonne sie schließlich an. Gemächlich, als treibe sie nichts, trat Isabella an das Pult und half, die Schutzdeckel zu schließen. Sie waren gar nicht so schwer, wie sie dem ersten Anschein nach geglaubt hatte. Suor Ablata war nur einfach zu alt für diese Tätigkeit. Als die Nonne endlich ihren
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