Die Botschaft Der Novizin
wirklich zurecht?«, fragte er leise, in der Hand ihr Tuch, das er offenbar nicht zurückgeben wollte, denn er steckte es sich in den Ärmel seiner Soutane.
Isabella sah ihn lange an. Er war ein attraktiver Mann, der seine Wirkung auf Frauen nicht verfehlte. Sie wurde sich seiner Nähe plötzlich sehr stark bewusst. Schließlich senkte sie den Blick. »Danke, Pater. Ohne Euch ...« Sie beendete den Satz nicht. Dann eilte sie in den Chor. Erst nach der Hälfte des Weges wurde ihr bewusst, dass sie immer noch barfuß lief. Sie erschrak, als sie entdeckte, dass ihre Schuhe nicht mehr vor dem alten Schrank auf dem Weg zum Nonnenchor standen. Es würde eine eisige Anbetung werden, wenn sie die ganze Zeit über auf dem kalten Steinfußboden stehen musste.
Mit gesenktem Blick reihte sie sich in die Schlange der Schwestern ein, die sich zum Gebet versammelten. Wieder stand die Äbtissin wie eine Sphinx vor dem Zugang und zählte ihre Schäfchen. Erst als Isabella die Tür durchschritt, fiel ihr auf, dass Signora Artella neben der Oberin wartete. Die Nonne hielt ein paar Holzschuhe in der Hand, die sie ihr entgegenstreckte.
KAPITEL 24 Isabella lag auf dem Rücken und starrte gegen die Decke. Das Flackern der Talglampe, die in der Zelle brennen musste, warf unruhige Schatten dagegen, sodass man denken konnte, die Zimmerdecke bewege sich und man liege unter einem Vogelflügel, der unaufhörlich schlage. Sie konnte nicht schlafen, wollte nicht schlafen. Unaufhörlich wälzten sich in ihrem Kopf die Gedanken um wie das Mahlwerk einer Getreidemühle.
Außerdem lauschte sie mit halbem Ohr ständig nach draußen, auf die Schritte der Nonnen, die auf Geheiß der Äbtissin ihre Runden drehten. Alle sollten ruhig schlafen können. Morgen würde man ihren Fall untersuchen.
Doch nicht die Schritte und die Furcht vor dieser Untersuchung hielten sie wach. Isabella dachte über den Pater nach und über die Funktion des Schlüssels. Hatte sie in der Neumenhandschrift etwas übersehen? Wer um alles in der Welt hatte sie im Kreuzgang so erschreckt? War das der Mörder ihrer Tante gewesen? Das Bild des Mannes im Kreuzgang stand ihr deutlich vor Augen: dunkles Antlitz, starr und steinern der Blick – und er trug einen Turban. Der Turban ließ sie nicht mehr los. Ständig kehrten ihre Gedanken zu dieser Kopfbedeckung zurück. Hatte sie nicht heute bereits einmal eine solche gesehen? Aber wo?
Und dieser Pater: Wie süßlich er getan hatte! Dabei war ihm beinahe die Gier nach ihrem Geheimnis aus den Augen gesprungen. Sie wünschte sich jetzt, sie hätte ihm niemals etwas von dem Schlüssel gesagt. Und ihr schrecklichstes Erlebnis: die Stimme und die weiche Berührung danach. Wer war ihr da nachgeschlichen? Signora Artella? Die Novizin, die Contarini? So viele unbeantwortete Fragen stachen auf sie ein, und alle waren dazu angetan, sie um den Schlaf zu bringen.
Sie versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen und
zwang sich, mit dem Chorbuch zu beginnen, was gar nicht so
einfach war. Das Geräusch von Holzpantinen näherte sich ihrerZellentür. Isabella schloss die Lider. Jetzt würde sich ein Auge gegen die Tür drücken, würde eine der älteren Frauen einen Blick in ihre Zelle werfen, darauf achten, dass die Hände über der Bettdecke lagen, dass sie allein war. In diesen Momenten fühlte sich Isabella so schutzlos, so ausgeliefert. Nichts mehr gehörte ihr hinter diesen Mauern, am allerwenigsten die Zeit, die ihre persönlichste war: der Schlaf. Die Schuhe lösten sich wieder von ihrer Tür und klapperten den Gang entlang, um vor der nächsten Zelle innezuhalten.
Ihre Gedanken kehrten zu ihr zurück, und erneut stieg das Bild der Säule in ihrem Kopf auf. Natürlich, denselben Kopf hatte sie gesehen, als sie das Chorbuch aufgeschlagen hatte: die Initiale »I«, die als Säule gestaltet war, hinter der sich eine Gestalt versteckte. Hatte sie sich selbst genarrt? Vielleicht war ihr gar niemand gefolgt. Vielleicht hatte sie lediglich im Kreuzgang irgendwelche Figuren, mit denen die Kapitelle geschmückt waren, in ihrer Fantasie zu einem Turbanträger umgestaltet und war ihrer eigenen Einbildung erlegen.
In der beruhigenden Hoffnung, wenigstens dieses Problem gelöst zu haben, wandte sie sich in Gedanken wieder der Neumenhandschrift zu. Sie hatte das gewaltige Buch aufgesperrt und aufgeschlagen. Es hatte buchstäblich nichts enthalten, was von Interesse gewesen wäre. Warum also sollte man den Schlüssel dazu verstecken? Die Frage bohrte
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