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Die Botschaft des Feuers

Die Botschaft des Feuers

Titel: Die Botschaft des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Neville Charlotte Breuer Norbert Moellemann
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anderen Seite des Tischs Platz, wo die schwarzen Figuren aufgebaut waren, und platzierte seine Dame auf ihrem Feld. »Bitte sehr«, sagte Wartan und zeigte auf den Stuhl gegenüber.
    In dem Moment, als ich mich an den Tisch setzte und die weiße Dame abstellte, war es, als würde etwas in mir zum Leben erwachen. Ich vergaß, dass ich seit zehn Jahren nicht mehr an einem Schachbrett gesessen hatte. Ich nahm wahr, wie die Energie mich durchströmte, und spürte meine innere Kraft. Ich zog den Damenbauer auf d4.
    Erst nachdem ich das Brett eine ganze Weile betrachtet hatte, bemerkte ich, dass Wartan seinen Eröffnungszug immer noch nicht gemacht hatte. Als ich ihn ansah, musterte er mich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck, den ich nicht ergründen konnte.
    »Du bist dran«, half ich nach.
    »Vielleicht war das ja doch keine besonders gute Idee«, erwiderte er.
    »Doch, es war eine prima Idee«, entgegnete ich wie berauscht. »Los, mach schon.«
    »Alexandra«, sagte er. »Ich habe die ganzen letzten zehn Jahre auf Turnieren gespielt. Meine Elo-Bewertung liegt weit
über 2600. Du kannst mich mit der Königsindischen nicht schlagen, falls du das vorhast.«
    Das war immer meine Lieblingseröffnung gewesen, deshalb war es unnötig hinzuzufügen: Beim letzten Mal hat es auch schon nicht geklappt .
    »Es ist mir egal, ob oder wie ich dich besiege«, sagte ich. Das war glatt gelogen. »Aber wenn du möchtest, kannst du ja mit einer anderen Verteidigung antworten.« Ich konnte nicht glauben, dass wir diskutierten, anstatt zu spielen.
    »Ich fürchte, ich weiß gar nicht, wie man verliert«, erwiderte Wartan mit einem entschuldigenden Lächeln, als wäre ihm soeben klar geworden, was er tat. »Und schon gar nicht, wie man gnädig verliert. Ich kann nicht einfach so tun als ob, selbst wenn ich wollte, nur um dir ein gutes Gefühl zu geben.«
    »In Ordnung - von mir aus kannst du auch einen Wutanfall kriegen, wenn ich dich schlage«, erwiderte ich. »Fang einfach an.«
    Widerwillig zog er seinen Springer, und wir waren im Spiel.
    Tatsächlich wählte er bei seinem nächsten Zug eine andere Verteidigung als erwartet - er zog mit einem Bauern auf e6! Die Damenindische Verteidigung! Ich bemühte mich, mir meine Erregung nicht anmerken zu lassen. Denn das war genau die Strategie, auf die mein Vater und ich uns intensiv vorbereitet hatten, für den Fall, dass ich in Sagorsk Weiß spielen würde!
    Und da jede mögliche Erwiderung auf diese Verteidigung seit meiner Kindheit in mein Gehirn eingebrannt war, war ich darauf geeicht, schweres Geschütz aufzufahren, falls irgendjemand jemals so gegen mich eröffnen sollte. In Wyoming hatte Wartan mir doch selbst gesagt, dass es auf die Wahl des richtigen Zeitpunkts ankam, oder?

    Also gut, jetzt war der richtige Zeitpunkt.
    Das Leben imitiert die Kunst. Die Realität imitiert Schach.
    Beim neunten Zug streute ich Sand in Wartans Getriebe. Ich schob meinen Springerbauern von g2 nach g4.
    Wartan sah mich erstaunt an und lachte kurz auf. Er hatte offensichtlich vergessen, dass es hier um ein ernstes Spiel ging. »Diesen Zug hast du noch nie in deinem Leben gespielt«, sagte er. »Was glaubst du, wer du bist - ein kleiner Kasparow?«
    »Nein«, erwiderte ich, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich bin eine kleine Solarin. Und ich glaube, du bist dran.«
    Immer noch lachend schüttelte er den Kopf - aber ausnahmsweise widmete er jetzt dem Brett mehr Aufmerksamkeit als mir.
    Schach ist ein interessantes Spiel, von dem man immer wieder etwas darüber lernen kann, wie der menschliche Verstand arbeitet. Ich wusste zum Beispiel, dass Wartans Gehirn randvoll war mit in zehn Jahren trainierten Variationen, von denen ich noch nicht einmal etwas gehört hatte. In all diesen Jahren war er gegen die besten Spieler der Welt angetreten und hatte meistens gewonnen.
    Aber so schwach meine Position in dieser Hinsicht gegen die seine auch sein mochte, so wusste ich doch, dass ich das Überraschungsmoment auf meiner Seite hatte. Als Wartan sich an das Schachbrett gesetzt hatte, dachte er sicherlich, er würde gegen diese traumatisierte, knapp zwölfjährige Schachaussteigerin spielen, in die er sich verliebt hatte - und die er nach Möglichkeit nicht mehr verletzen wollte als unbedingt nötig. Aber nach meinem unvorhergesehenen Bauernmanöver war ihm plötzlich klar geworden, dass er dieses Spiel - wenn er jetzt nicht sehr schnell höllisch aufpasste - durchaus verlieren konnte.
    Ich fühlte mich bestens.

    Aber

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