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Die Botschaft des Feuers

Die Botschaft des Feuers

Titel: Die Botschaft des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Neville Charlotte Breuer Norbert Moellemann
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ich wusste auch, dass ich meine Euphorie über Bord werfen musste, sonst würde ich das Spiel nicht durchhalten. Schließlich konnte Wartan, der über ein geradezu enzyklopädisches Gedächtnis und eine langjährige Erfahrung verfügte, sich auf der Stelle alle Variationsmöglichkeiten vor Augen führen, die auf meinen letzten Zug so wie auf alle anderen Züge folgen konnten. Aber es ist auch bekannt, dass die Meister dazu neigen, sich auf das zu konzentrieren, was ungewöhnlich ist, anstatt auf das Normale. Also musste ich seinen Verstand täuschen, seine sorgsam geschulte Intuition in die Irre leiten.
    Ich hatte nur noch einen Trumpf im Ärmel, der mich retten konnte, einen Kunstgriff, den mein Vater mir beigebracht hatte, eine Technik, die er meines Wissens sonst niemandem verraten hatte. Und ich wusste, es war etwas, das nicht ins Repertoire des normalen Schachtrainings gehörte. Jahrelang hatte ich Angst davor gehabt, es einzusetzen - wegen meiner sogenannten Schachblindheit, die mir sogar schon bei Turnieren zugesetzt hatte. Tatsächlich fragte ich mich, ob es nicht vielleicht genau diese Technik meines Vaters war, die sie überhaupt erst verursacht hatte, da sich damit alles auf den Kopf stellen ließ.
    Jeder weiß , hatte mir mein Vater in meiner Kindheit immer wieder eingebläut, dass es im Fall der Gefahr für deine Positionen zwei Möglichkeiten gibt zu reagieren: Angriff oder Verteidigung. Aber es gibt noch eine dritte Möglichkeit, auf die nie jemand kommt: die Figuren selbst nach ihrer Meinung über die Situation zu fragen, in der sie sich befinden .
    Einem Kind erschien das absolut logisch. Mein Vater erklärte mir, dass zwar jede Position , in der man sich befinde, ihre Schwächen und Stärken in Bezug auf Angriff oder Verteidigung habe, aber wenn es um Figuren gehe, stelle sich die Situation völlig anders dar. Für eine Schachfigur seien solche
Stärken und Schwächen Teil ihrer Natur, ihrer Persönlichkeit. Sie definierten ihren Modus Operandi, sowohl die Freiheit als auch die Grenzen, in denen sich die Figur in ihrer scheinbar geschlossenen Schwarz-und-Weiß-Welt bewege.
    Nachdem mein Vater mir das einmal erklärt hatte, konnte ich sehr schnell erfassen, dass, wenn zum Beispiel eine Dame einen Springer bedrohte, der Springer nicht gleichzeitig die Dame bedrohen konnte. Oder wenn ein Läufer einen Turm bedroht, ist der Turm nicht in der Lage, den Läufer zu bedrohen. Selbst die Dame, die mächtigste Figur auf dem Feld, kann sich nicht erlauben, sich lange auf einem Feld auszuruhen, das auf dem Weg eines bescheidenen Bauern liegt, sonst ist sie verloren. Die Schwäche jeder Figur - das heißt also, ihre natürliche Begrenzung, die es ermöglicht, sie in die Falle zu locken oder anzugreifen - stellt gleichzeitig ihre Stärke dar, wenn sie jemanden angreift.
    Meinem Vater gefiel es, Situationen zu suchen, in denen man von den gebündelten, den Figuren innewohnenden Eigenschaften profitieren und ein aggressives taktisches Trommelfeuer loslassen konnte - eine wahre Offenbarung für eine angstfreie Sechsjährige, und eine, von der ich hoffte, dass ich sie heute anwenden konnte. Ich war ohnehin immer eine draufgängerische Spielerin gewesen. Und ich wusste, dass ich - schon allein, um mit Wartan Asow mithalten zu können - unbedingt noch ein paar Überraschungen brauchte.

    Nachdem eine sehr lange Zeit verstrichen zu sein schien, blickte ich auf. Wartan musterte mich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck.
    »Erstaunlich«, sagte er. »Aber warum hast du es nicht gesagt?«

    »Warum hast du dich nicht bewegt?«, fragte ich.
    »Also gut«, pflichtete er mir bei. »Dann mache ich jetzt den einzigen Zug, der mir noch bleibt.«
    Wartan streckte seinen Zeigefinger aus und stieß seinen König um. »Du hast vergessen, mir mitzuteilen, dass ich schachmatt bin«, sagte er.
    Ich stierte auf das Brett. Ich brauchte gut fünfzehn Sekunden, um es zu entdecken.
    »Hast du es selbst etwa gar nicht bemerkt?«, fragte er verblüfft.
    Mir war vor Schreck ein bisschen schwindlig geworden. »Ich glaube, ich brauche noch ein bisschen Training, bevor ich in die Vollen gehe«, gab ich zu.
    »Aber wie hast du das gemacht?«, wollte er wissen.
    »Es ist eine ungewöhnliche Technik, das Spiel zu betrachten, die mein Vater mir als Kind beigebracht hat«, erwiderte ich. »Aber manchmal geht das auch nach hinten los und scheint bei meinen Synapsen was durcheinanderzubringen.«
    »Was auch immer es ist«, sagte Wartan mit einem

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