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Die Botschaft des Feuers

Die Botschaft des Feuers

Titel: Die Botschaft des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Neville Charlotte Breuer Norbert Moellemann
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schweifen. Im heftigen Wind flatterte sein weißer Burnus wie die Flügel eines großen Vogels. Sein langes Haar, das er offen trug, war vom gleichen Kupferrot wie der Sand unter ihm. Nirgendwo auf der Welt gab es eine Wüste von dieser Farbe, der Farbe des Bluts. Der Farbe des Lebens.
    Es war ein unwirtlicher Ort hoch oben auf einem Felsen mitten in der tiefsten Sahara, wo nur wilde Ziegen und Adler lebten. Aber so war es nicht immer gewesen. Hinter ihm, an den berühmten Felswänden des Tassili-Gebirges befanden sich fünftausend Jahre alte Felsmalereien - karminrot, ocker, schwarz, braun, weiß -, die von der Geschichte dieser Wüste erzählten und von den Menschen, die sie in Urzeiten bevölkert hatten. Eine Geschichte, die sich noch immer fortsetzte.
    Hier an diesem Ort war er auf die Welt gekommen, allerdings war er seitdem nicht mehr hier gewesen. Hier hatte sein Leben angefangen, dachte Charlot. Er war in das Spiel hineingeboren worden. Und hier würde das Spiel womöglich enden - nachdem er das Rätsel gelöst hatte. Deswegen war er in diese uralte Wildnis zurückgekehrt, zu diesem Gemälde aus grellem Licht und dunklen Geheimnissen: um die Wahrheit zu finden.
    Die Berber, die die Wüste bewohnten, glaubten, er sei vom
Schicksal dazu ausersehen, das Rätsel zu lösen. Seine Geburt war vorhergesagt gewesen. Die älteste Legende der Berber berichtete von einem frühgeborenen Kind mit blauen Augen und rotem Haar, das über das zweite Gesicht verfügen würde. Charlot schloss die Augen, atmete den Geruch nach Sand und Salz und Zinnober ein und beschwor seine frühesten körperlichen Erinnerungen herauf.
    Er war vorzeitig in die Welt geworfen worden - rot und nackt und schreiend. Seine Mutter Mireille, eine Waise von sechzehn Jahren, war aus einem Kloster in den baskischen Pyrenäen geflohen und über zwei Kontinente in die Wüste gereist, um das gefährliche Geheimnis zu beschützen. Sie war nur ein einziges Mal mit einem Mann zusammen gewesen: seinem Vater. Bei Charlots Geburt hier auf den Felsen des Tassili-Gebirges hatte ein in blaue Tücher gehüllter Berberprinz mit bläulich schimmernder Haut geholfen, einer der »blauen Männer« der Kel-Rela-Tuareg. Dieser Mann war Schahin gewesen, der Wüstenfalke, der Charlot, diesem auserwählten Kind, Vater, Pate und Lehrer gewesen war.
    So weit Charlot blicken konnte, wanderte der stumme, rote Sand, wie er es seit Urzeiten tat, bewegte sich rastlos wie ein lebendes, atmendes Wesen - Sand, der ein Teil von ihm zu sein schien, Sand, der jede Erinnerung auslöschte …
    Bis auf die seine. Charlots schreckliche Gabe der Erinnerung begleitete ihn überallhin - selbst die Erinnerung an Dinge, die noch gar nicht geschehen waren. Als Junge hatten sie ihn den kleinen Propheten genannt. Er hatte den Aufstieg und Fall von Königreichen vorhergesehen, die Zukunft großer Männer wie Napoleon und Alexander von Russland - oder seines leiblichen Vaters, dem er nur ein einziges Mal begegnet war: Prinz Charles-Maurice de Talleyrand.
    Charlots Erinnerung an die Zukunft war immer wie ein nie
versiegender Quell gewesen. Er konnte die Zukunft vorhersehen, auch wenn er sie nicht ändern konnte. Aber die größte Gabe konnte auch ein Fluch sein.
    Für ihn war die Welt wie ein Schachspiel, bei dem jeder Zug, den man machte, Myriaden potenzieller Züge ermöglichte und zugleich eine grundlegende Strategie erkennen ließ, die so unerbittlich war wie das Schicksal und die Menschen unbarmherzig weitertrieb. Wie das Schachspiel, die Felsenmalereien und der ewige Sand waren die Vergangenheit und die Zukunft für Charlot stets präsent.
    Denn gemäß der Weissagung war Charlot unter dem Blick der uralten Göttin geboren worden, unter dem Blick der Weißen Göttin, deren Bild auf eine riesige konkave Felswand gemalt war. Die Göttin war in allen Kulturen und zu allen Zeiten bekannt gewesen. Jetzt schwebte sie über ihm wie ein Racheengel, hoch oben an dem Felsen. Die Tuareg nannten sie »die Wagenlenkerin«.
    Es hieß, sie sei diejenige gewesen, die den Nachthimmel mit Sternen geschmückt und das Spiel unaufhaltsam auf den Weg gebracht hatte. Charlot war übers Meer hierhergereist, um sie zum ersten Mal seit seiner Geburt mit eigenen Augen zu sehen. Nur sie, so hieß es, könne das Geheimnis des Spiels enthüllen - und das vielleicht auch nur dem Auserwählten.

    Charlot wachte vor dem Morgengrauen auf und schlug die wollene Dschellaba zurück, die er zum Schutz gegen die nächtliche Kälte als

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