Die Botschaft des Feuers
anzünden lassen. Die kostbaren Aubusson-Teppiche waren gebürstet, die Canova-Skulpturen ihrer berühmten Kinder vom Staub befreit. Madames Diener trugen ihre feinste grüngoldene Livree, und ihr Stiefbruder, Kardinal Joseph Fesch, würde in Kürze aus seinem Palazzo Falconieri eintreffen, um mit ihr zusammen die Gäste zu begrüßen, für die sie jedes Jahr am selben Tag ihre Türen öffnete. Denn dies war ein wichtiger Tag im heiligen Kalender, ein Tag, den stets zu ehren Madame Mère gelobt hatte: der Tag der Geburt der Heiligen Jungfrau.
Seit mehr als fünfzig Jahren, seit sie ihr Gelöbnis abgelegt hatte, pflegte sie dieses Ritual. Immerhin, war nicht ihr Lieblingssohn am Tag von Mariä Himmelfahrt geboren worden? Der schwache Winzling, der so unerwartet und viel zu früh das Licht der Welt erblickt hatte, nachdem die erst knapp neunzehnjährige Letizia bereits zwei Fehlgeburten gehabt hatte. Und so hatte Letizia an jenem Tag der Heiligen Jungfrau gelobt, ihren Geburtstag stets in Ehren zu halten und ihr alle ihre Kinder zu widmen.
Der Vater des Kindes hatte jedoch darauf bestanden, ihren Sohn nach einem mysteriösen ägyptischen Märtyrer Neapolus zu nennen anstatt Carlo-Maria, wie Letizia es vorgezogen hätte, aber allen ihren Töchtern hatte sie den Vornamen Maria gegeben: Maria-Anna, die später als Großherzogin Elisa der Toskana bekannt werden sollte, Maria-Paola, genannt Pauline, die Prinzessin Borghese, und Maria-Annunziata, die spätere Königin Caroline von Neapel. Und alle Kinder nannten ihre Mutter Madame Mère.
Die Heilige Jungfrau hatte alle Mädchen mit Gesundheit und Schönheit gesegnet, während deren Bruder, der später als Napoleon berühmt wurde, ihnen Reichtum und Macht verliehen hatte. Aber nichts davon sollte von Dauer sein, alle diese Geschenke hatten sich aufgelöst wie der Nebel um die Insel Korsika, auf der Letizia geboren war.
Während Madame Mère durch die mit Blumen geschmückten, von Kerzen erleuchteten Gemächer ihres römischen Palazzos wandelte, sagte sie sich, dass auch dies alles nicht von Dauer sein würde. Mit klopfendem Herzen dachte sie daran, dass das heutige Fest zu Ehren der Heiligen Jungfrau womöglich vorerst ihr letztes sein würde. Inzwischen eine alte Frau, deren Kinder und Angehörige entweder tot oder in alle Winde verstreut waren, lebte Letizia, die seit Jahren nichts als Trauerkleidung
trug, in einer ihr gänzlich fremden Welt, umgeben von vergänglichen Dingen: Reichtum, Besitz und Erinnerungen.
Aber eine dieser Erinnerungen war vielleicht jetzt wieder aufgetaucht, um sie zu quälen.
Denn am Morgen hatte Letizia eine Nachricht erhalten, eine von einem persönlichen Boten abgelieferte Botschaft von jemandem, von dem sie in all den Jahren, die seit dem Aufstieg und Fall des Kaiserreiches Bonaparte vergangen waren, ja, seit Letizia und ihre Familie vor fast dreißig Jahren die wilden Berge Korsikas verlassen hatten, nichts mehr gehört hatte. Von jemandem, den Letizia für tot gehalten hatte.
Sie zog das Schreiben aus dem Mieder ihres schwarzen Trauerkleids und las es noch einmal - vielleicht zum zwanzigsten Mal, seit es am Morgen eingetroffen war. Es war nicht unterzeichnet, aber es bestand kein Zweifel daran, wer es geschrieben hatte. Die Botschaft war in der alten Tifinagh-Schrift verfasst und die Sprache das Tamascheq der Tuareg, die in der tiefen Sahara lebten. Nur ein einziger Mensch hatte sich je in geheimen Nachrichten an Letizias Mutter dieser Sprache bedient.
Aus diesem Grund hatte Madame Mère ihren Stiefbruder, den Kardinal, dringend gebeten herzukommen, ehe die anderen Gäste eintrafen, und die Engländerin mitzubringen - die andere Maria, die erst kürzlich nach Rom zurückgekehrt war. Diese beiden waren die Einzigen, die Letizia in ihrer schrecklichen Notlage helfen konnten.
Denn falls dieser Mann, der »der Falke« genannt wurde, tatsächlich von den Toten auferstanden war, wusste Letizia genau, was sie zu tun hatte.
Obwohl in all ihren Gemächern Feuer brannten, spürte sie, wie ihr die vertraute Kälte ihrer Vergangenheit in die Glieder kroch, während sie die schicksalhaften Zeilen noch einmal las:
Der Feuervogel ist aufgestiegen. Die Acht kehren zurück.
Tassili N’ajjer, Sahara
HERBSTäQUINOKTIUM, 1822
Wir sind unsterblich, und vergessen nicht,
Sind ewig, und Vergangenheit ist uns
Wie Zukunft gegenwärtig.
LORD BYRON, Manfred
Charlot stand auf dem hohen Tafelberg und ließ den Blick über die endlose rote Wüste
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